Vieles war schon länger bekannt oder vermutet. Durch die von Edward Snowden weitergegebenen Dokumente werden die verschiedenen Überwachungsprogramme der hauptsächlich US-amerikanischen und britischen Geheimdienste nun nach und nach der breiten Öffentlichkeit enthüllt. Doch dies ist nur ein Teil des Überwachungssystems.
Auch in der Schweiz gibt es vergleichbare Programme und Absichten. Wenn auch nicht gleich konsequent (und mit entsprechendem Budget) vorangetrieben, folgen sie ähnlichen Ansätzen und Denkweisen. Nicht zuletzt weil internationale und lokale Kommunikation im Internet nicht auseinander gehalten werden können und Grundrechte nicht nur individuell zu gelten haben, braucht es eine übergreifende Betrachtung.
Eine kurze Auffrischung der wichtigsten, jüngsten Enthüllungen
Während sich die NSA via PRISM Zugriff auf die (Kommunikations-)Daten bei Cloud-Anbietern, wie Apple, Google, Facebook und Microsoft verschafft, erzwingt sich der Partnerdienst GCHQ mit Tempora Zugang zu 200 Glasfaserverbindungen, die einen Hauptteil der transatlantischen und wichtige innereuropäische Verbindungen darstellen.
Einige der «mitarbeitenden» Firmen sind auch in der Schweiz tätig. Die erfassten Inhaltsdaten werden für 3 und Verbindungsdaten für 30 Tage gespeichert.
Das Trojaner-Programm Genie und die TAO-Einheit sorgt für den Zugriff auf 85’000 fremde Rechner und Netzwerke. Mit XKeyscore steht dann ein Tool zur Auswertung der riesigen, verteilten Daten zur Verfügung. Und da mehr und mehr Verbindungen verschlüsselt stattfinden, wurden die Programme BULLRUN resp. auf der europäischen Seite Edgehill immer wichtiger.
Es geht hier weniger um eine Aufzählung der einzelnen Programme, als vielmehr um die Darstellung eines Systems, das nichts weniger bezweckt, als die Echtzeit-Analyse und teilweise Langzeitspeicherung der kompletten Internetkommunikation: Es ist der wahr gewordene Traum von real Big Data.
Welche immensen Daten heute der NSA im Vergleich zur ehemaligen Staatssicherheit in der DDR zur Verfügung stehen, zeigt eine interaktive Grafik von OpenDataCity. Eine zweite Grafik führt vor Augen, wo z.B. eine simple Anfrage zu nzz.ch entlangläuft – und durch wie viele Geheimdienst-Territorien diese führt.
Das Internet ist nur ein Teil des Überwachungssystems
Neben der Online-Überwachung werden in den USA aber auch die Umschläge der Briefpost, die internationalen Finanztransaktionen – auch aus der Schweiz – oder die Fluggastdaten erfasst. Dies zeigt, wie stark sich die Gesellschaft nach 9/11 geändert hat. Die Unschuldsvermutung wurde durch eine permanente Rasterfahndung abgelöst. Dabei geht es nicht «nur» um Nachrichtendienst oder Staatsschutz. Es handelt sich vielmehr um einen Teamsport von NSA, CIA und FBI. Die Grenzen von Prävention und Strafverfolgung, Inland- und Auslandsüberwachung verschwinden nach und nach.
Wie wichtig und unverzichtbar diese Programme den Regierungen scheinen, haben drei Reaktionen gezeigt: So wurde das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales auf dem Heimflug von Moskau zu einer Landung in Wien gezwungen. Es wurde vermutet, dass Edward Snowden an Bord sei. In London wurde der Lebenspartner von Glenn Greenwald (der bis dahin die Snowden-Dokumente im Guardian veröffentlicht hat) in London Heathrow für 9 Stunden aufgrund eines Anti-Terror-Gesetzes festgehalten. Derweil die Zeitung selber durch Regierung und Geheimdienst massiv unter Druck gesetzt wird, was in der symbolischen und bizarren Zerstörung von Computern gipfelte.
Fichenstaat 2.0
Wie wir alle wissen, betreiben nicht nur die USA und Grossbritannien entsprechende Nachrichtendienste; auch Neuseeland, Australien und Kanada (als Mitglieder der Five Eyes) betreiben Abhöranlagen. Frankreich und Deutschland unterhalten eigene Programme. Und wohl so ziemlich jeder andere Staat auch.
In der Schweiz wurden die Möglichkeiten des Staatsschutzes nach dem Fichenskandal beschränkt. Dennoch konnte ein Satellitenüberwachungssystem Onyx vom militärischen Geheimdienst aufgebaut werden. Ähnlich wie bei Tempora wird dabei vollautomatisch die (gesamte) Kommunikation auf Vorkommen von bestimmten Begriffen geprüft und entsprechend aufgezeichnet. Mit dem aktuell vorliegenden Entwurf zum neuen Nachrichtendienstgesetz soll diese Funkaufklärung um die Kabelaufklärung erweitert werden.
Dabei ist nicht nur vorgesehen, dass die Datenströme von den «Betreiberinnen von leitungsgebundenen Netzen» angezapft werden können. Sondern – nun wie bei PRISM – auch die «Anbieterinnen von Telekommunikationsdienstleistungen» die Telekommunikationsdaten – im Geheimen – an das Zentrum für elektronische Operationen der Schweizer Armee ZEO zur Auswertung weiterleiten müssten.
Nun kann bei abgefangener Satellitenkommunikation allenfalls noch argumentiert werden, dass diese Vorgänge im Ausland beträfen. Beim Abschnorcheln der Datenleitungen, die von der Schweiz ins Ausland führen, sind jedoch ausnahmslos (auch) Personen aus der Schweiz beteiligt.
Der Zweck der Überwachungsmassnahme ist im Gesetzesentwurf offen umschrieben mit der «Beschaffung von Informationen über sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge» sowie der «Wahrung weiterer wesentlicher Landesinteressen». Die Weitergabe an inländische (auch zur Strafverfolgung) und ausländische Behörden ist ausdrücklich vorgesehen.
Es sind zwar Einschränkungen zur Verwendung vorgesehen. Eine Überwachung beginnt jedoch bereits mit der automatischen Erfassung/Filterung von Daten – und nicht erst bei deren genaueren Auswertung oder Weitergabe. Um ein analoges Bild zu zeichnen: Schon eine Attrappe einer Überwachungskamera sorgt dafür, dass Menschen ihr Verhalten anpassen. Dies hängt nicht davon ab, ob tatsächlich Bilder aufgenommen werden, sondern dass damit gerechnet werden muss.
Es zeigt sich hier auch ein Paradox in der Geheimdiensttätigkeit: Nicht zuletzt weil sie die eigene Bevölkerung nicht aushorchen sollten/dürfen, sind sie auf den Nachrichtenaustausch mit anderen Diensten angewiesen. Gleichzeitig schnüffeln sie sich gegenseitig aus – und sind für die Spionageabwehr zuständig.
Es offenbart auch ein eigenartiges Verständnis für Grundrechte, wenn inländische Personen geschützt, ausländische jedoch überwacht werden dürfen.
Inländische Telekommunikationsüberwachung
Mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz soll aber nicht «nur» die länderübergreifende Kommunikation abgehört werden dürfen, sondern es ist auch der Zugriff auf den Post- und Fernmeldeverkehr (gemäss BÜPF) und folglich die Vorratsdatenspeicherung vorgesehen. Auch dieses Gesetz ist ja bekanntlich in Revision und soll u.a. die verdachtsunabhängige Speicherung der Randdaten sämtlicher Telekommunikationsteilnehmer in der Schweiz auf 12 Monate verdoppeln.
Und ein paar zusammenfassende Fragen und Antworten
Nach dieser Systembeschreibung stellen sich ein paar grundlegende Fragen:
Was bedeutet eigentlich unser verfassungsmässig garantiertes Brief-, Post- & Fernmeldegeheimnis noch, wenn ich davon ausgehen muss, dass sämtliche meine E-Mails, Chats und Telefonate überwacht und/oder gespeichert werden?
(Und sie verlieren auch nicht ihre Gültigkeit, wenn die Kommunikation grenzüberschreitend verläuft – weil ein Server im Ausland steht oder der/die KommunikationsparterIn sich dort aufhält.)
Was bedeutet es, wenn die Schweiz mit den USA ein gültiges Datenschutzabkommen (Safe Harbor) hat, das Firmen wie Microsoft, Apple, Google & Co. ein schweizerisches Datenschutzniveau bescheinigt – dahin übertragene Daten aber wohl schnurstracks bei Überwachungs-Behörden landen?
Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte müsste sich (und seinem Vertragspartner) nun eigentlich einige überaus unangenehme Fragen stellen. Sowie auch all die inländischen Firmen, die sich blindlings auf das Abkommen gestützt haben und Daten bei entsprechenden Firmen bearbeiten (lassen).
Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn sich also kaum noch jemand um den grundsätzlichen Schutz der Privatsphäre kümmert – weil es sinnlos scheint? Sich nur wenige Sorgen um eine freie Presse machen? Kaum noch jemand das Anwalts- und Arztgeheimnis wirklich durchsetzt? Oder diplomatische Gepflogenheiten hoch hält?
Eine individuelle Lösung scheint starke Kryptografie zu sein. Als eine Massnahme der Selbsthilfe verschafft sie an einigen Stellen wichtige Abhilfe. Jedoch bleiben auch durch Verschlüsselung der Kommunikation die zur Übertragung benötigten Metadaten (Wer mit wem, wann und wo) erhalten. Da diese viel einfacher auszuwerten sind, stellen sie leider auch das primäre Ziel der Dienste dar.
Kryptographie löst auch nicht das grundlegende Problem, resp. die Denkweise: Es kann nicht sein, dass ich den Wasserhahn aufdrehen muss, wenn ich ein vertrauliches Gespräch führen möchte. Der Respekt der Privatsphäre hat wieder Norm zu werden. Und dies muss politisch und gesellschaftlich diskutiert und gelöst werden.
Es gilt daher speziell auch nicht, mehr Spionageabwehr und damit Staatsschutz zu fordern – sondern eben weniger. Geheimdienste laufen (schon dem Namen nach) immer mindestens Teilweise ausser Kontrolle. Dies widerspricht bereits in den Grundzügen dem Wesen einer Demokratie.
Wir befinden uns wohl gerade an einem entscheidenden Punkt in der jüngeren Geschichte. Die Verletzung des Gesellschaftsvertrages muss jetzt in der Schweiz und international debattiert und die Balance von Sicherheit aka Kontrolle versus persönlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Entwicklung (wieder) hergestellt werden. Falls dies nach den jüngsten Ereignissen nicht geschieht, zementieren NSA & Co. ihr Rolle wohl für die nächsten Jahrzehnte.