Mitte Dezember wurden die besten Geschichten aus dem Schreibwettbewerb «Vorratsdaten und Überwachung» prämiert. In einer losen Folge werden hier einige Texte veröffentlicht, die alle unter einer CC BY-SA-Lizenz stehen. «HEOB» hat es auf den dritten Platz geschafft. Nochmals herzliche Gratulation.
«HEOB» von Kilian Semmelmann
Alte Bekannte
„Specki? Specki, bist du das?“
Die Worte trafen Armin völlig unvorbereitet. Und dennoch erkannte er die Stimme sofort. Unwillkürlich, mit einem tief sitzenden Automatismus drehte er sich um, während ihm die Röte ins Gesicht schoss. Dort stand er, im schwarzen Anzug mit roter Krawatte. Gut gebaut, die Haare top gestylt, grinste er herüber.
„Du bist es ja wirklich.“
Das makellose Gesicht hielt Armin fixiert, der versuchte so selbstsicher wie möglich zu antworten.
„Thomas. Lange nicht gesehen.“
Thomas machte eine ausladende Geste, streckte die Hand aus und kam ihm zwei Schritte entgegen. Da war sie wieder, die Herausforderung, die Falle zur Demütigung. Armin schluckte. Er quälte sich ein Lächeln auf die Lippen und ging seinerseits die restlichen vier Schritte, um die Hand zu schütteln. Kaum hatten sie sich wieder voneinander gelöst, griff Thomas nach einem Taschentuch und rieb sich damit die Fingern. Armins Schmach kam zurück, Stück für Stück.
„Das muss ja zehn Jahre her sein, dass ich dich das letzte Mal gesehen habe. Unglaublich, was für ein Zufall“, lies Thomas ihn wissen, um gleich fort zu fahren. „Bist du nun unter die Blauwale gegangen?“
Dort war er. Der Schlag in die Magengrube. Die geschickt verpackte Beleidigung, eine Anspielung auf sowohl sein Gewicht, als auch das blaue Diensthemd das er trug, ließ Armin den Schweiß auf die Stirn treten. Wie früher in der Schule legte Thomas bei denunzierenden Wortspielen eine Kreativität an den Tag, die jeden Autor erblassen lassen würde.
„Ich.. Äh.. bin nun bei der Polizei, falls du das meinst, ja…“, stammelte er als schwächsten Konter von allen möglichen. Noch während er die Worte formulierte, wurde ihm bewusst, dass dies nur mehr Nährboden für Thomas Stichelei bieten würde. Abrupt fügte er hinzu «…und was Beamtenbeleidigung ist, wirst du ja wohl
wissen, nicht?»
Durch die hastige Ergänzung verschluckte sich Armin fast an seinem eigenen Speichel, was die als Warnung geäußerte Frage eher als Komik erscheinen ließ.
Thomas hob abwehrend die Hände. „Dies käme mir niemals in den Sinn, Herr Wachtmeister“ lachte er ihm ins Gesicht und zeigte dabei seine reinweißen Zähne. Anschließend drehte er seinen Kopf leicht zur Seite und rief über seine Schulter. „Jungs, darf ich vorstellen, Wachtmeister Saller.“
Armin sah zwei weitere Männer, beide im Anzug, an Thomas‘ Seite schlendern. Sie fixierten ihn mit ihren Blicken und wie abgesprochen kristallisierte sich auf beiden Lippenpaaren ein leicht abfällig angehauchtes Grinsen.
„Freut mich“, entgegnete der eine, während der andere ihn nur still musterte. Armin ballte unbewusst die Hand.
„Und dies hier, mein lieber Specki, sind meine beiden Herren Geschäftspartner.“
Thomas ließ keine Zeit zur Widerrede gegen diesen unsäglichen Spitznamen und fuhr sogleich fort. „Wir haben heute Vormittag einen Vertrag mit der größten Sicherheitsfirma der Welt abgeschlossen – und nun sind wir auf dem Weg um es zu feiern.“
Thomas hielt inne, als würde er seine Worte wirken lassen wollen. Sogleich legte er seine Arme um die beiden anderen, was ihn noch größer und breiter erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. „Willst du denn nicht mitkommen?“
Armin blickte verdutzt drein, als er die Frage hörte. Nie hatte ihn Thomas zu etwas eingeladen – geschweige denn auf eine Feier. Acht lange Schuljahre musste er die Klasse und ein halbes davon sogar die Bank mit ihm teilen. Und das war mehr als genug für seine Psyche und seinen Körper, der unter den vielen Sticheleien und
Gemeinheiten immer weiter anschwoll. Bis er endlich das Abitur hatte und ihn dieser Abschnitt seines Lebens nur noch im Schlaf verfolgte.
„Ich, äh…“ setzte Armin an, aber wurde sogleich von Thomas unterbrochen. „Ach, du musst sicher Streife schieben, nicht wahr?“
Armin schluckte abermals die Schmach hinunter, die mit dieser eindeutigen Abfuhr einherging, wie er es gewohnt war. „Ich arbeite in einem Büro, aber sonst hast du recht“ stammelte er hervor, wobei er versuchte, noch einen letzten Rest Würde zu behalten.
Mit einer Bewegung, die wie tausend Mal praktiziert aussah, zauberte Thomas eine Visitenkarte hervor. Er streckte sie ihm hin, als wäre es eine Ehre, diese zu empfangen. So lässig wie es ihm möglich war, nahm Armin diese entgegen und stopfte sie in die Hosentasche, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. Als Armin keine Anstalten machte, ihm die seine zu geben, wie es bei einem solchen Vorgehen üblich war, legte Thomas den Kopf schief, zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn fragend an. „Müsst ihr denn schon an der Pappe sparen, im Öffentlichen?“
Armin durchlebte einen erneuten Schweißausbruch, als er seinen Fehler bemerkte. Hektisch holte er seine Geldbörse aus der hinteren Hosentasche und fummelte umständlich seine Karte hervor. Seinem flüchtigen Blick entging nicht, dass sie einen kleinen Knick im rechten unteren Eck hatte und die Ränder bereits etwas schwarz-grau waren. Er hielt sie Thomas mit zitternder Hand entgegen und erntete dafür einen mitleidvollen Blick der Begleiter.
„Super! Da du nun weißt, wie du mich erreichen kannst, musst du mir unbedingt einmal schreiben. Auf ein Bier, der alten Zeiten willen“ ließ Thomas ihn mit überschwänglicher Freundlichkeit wissen, während er sie entgegen nahm. Armin nickte teilnahmslos, als er das erneute Grinsen seiner Gegenüber aufkeimen sah.
„Dann mach’s so gut wie ich“ meinte Thomas grinsend, bevor er die Hand zum Abschied hob und sich mit seinen Geschäftspartnern abwandte.
Während Armin ihnen vollkommen entkräftet nach sah, bemerkte er, dass Thomas die Visitenkarte in den nächstbesten Abfalleimer warf, als sie die Straße hinunter schlenderten, lachend und scherzend. Der Groll in Armin stieg weiter an und er zwang sich, in die entgegen gesetzte Richtung zu laufen, nur um nicht in Gefahr zu
laufen, ihnen nochmals zu begegnen.
Neue Methoden
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis Armin sich beruhigt hatte. Die Begegnung mit seinem alten Schulkameraden warf zu viele längst verdrängte Erinnerungen auf. Wie er damals gehänselt wurde und dadurch immer weiter zunahm. Seinen Frust in sich hinein fraß. Wie dadurch die Beleidigungen zunahmen. Ein Teufelskreis, der für ihn in einer Therapie endeten. Und sein lang gehegter Wunsch, eine Ausbildung zum Polizist zu absolvieren, wurde durch sein übermäßiges Gewicht auch verhindert.
Erst durch eine Sonderverordnung, die die körperlichen Anforderungen für Beamte im Innendienst fast komplett streichen ließ, gelang es ihm, aufgenommen zu werden. Das lag vor allem an seinen Computerkenntnissen, die er sich in den vielen einsamen Stunden seiner Jugend angeeignet hatte und die jede Behörde händeringend suchte. So schaffte er es zwar, eine Stelle im Präsidium anzunehmen, doch die Narben auf der Seele und der Speck auf den Rippen blieben.
Wieder und wieder versuchte sich Armin an diesem Tag einzureden, dass er es zu etwas gebracht hatte, im Leben. Dass nicht nur Thomas erfolgreich war. Und dass das Äußere sowieso nicht alles ist, sondern ein guter Charakter viel wichtiger sei. So recht gelang es ihm nicht, denn selbst als er wieder an seiner Dienststelle ankam, stapfte er unbewusst lautstark durch den Gang bis zu seinem Arbeitsplatz.
Der ein oder andere Blick folgte ihm, wurde jedoch von seiner grimmigen Miene abgewiesen. Auch hier, in der Welt der Erwachsenen, war es ihm noch nicht gelungen Freunde zu finden. Aber das hatte ja noch Zeit, sagte er sich.
Am Schreibtisch angekommen suchte er als erstes seinen kleinen Handventilator, um zumindest seinem schweißnassen Gesicht etwas Erleichterung zu verschaffen. Und während mit seiner Temperatur auch langsam sein Gemüt herunter kühlte, überlegte er, womit er sich beschäftigen konnte.
Für richtige Arbeit war er innerlich viel zu aufgebracht. Wahllos klickte er auf seinem Computer umher, als ihm eine zwei Wochen alte E-Mail ins Auge fiel. Der Titel lautete „Human Electronic OBservation – Nutzungseinweisung an alle Beamten“.
Er erinnerte sich. Durch das „erweiterte elektronische Sicherungsgesetz“, das vor sechs Monaten verabschiedet wurde, wurde auf jedem Computer ein neues Programm installiert. Das ursprüngliche Sicherungsgesetz erlaubte es speziell ausgebildeten Beamten einer neutralen Behörde auf die elektronischen Daten aller deutschen Staatsbürger zuzugreifen. Dies sollte Bedrohungen vermindern und Ermittlungen erleichtern. Da sie eine unabhängige Institution waren, galten sie als weisungsfrei und entschieden daher über jeden vorgetragenen Untersuchungsantrag einzeln.
Wie jedoch zu erwarten war, war diese Behörde schon bald hilflos überlastet. Armin alleine hatte siebzehn Fälle offen, die nur auf Input von dieser Behörde warteten. Durch den Versuch, jeden Fall neutral zu begutachten zog sich die Bearbeitungszeit immer weiter hinaus – bis teilweise Verjährungsfristen nicht mehr eingehalten werden konnten und manche Straftäter ungeschoren davon kamen.
Die Folge war ein Meinungswandel in der Gesellschaft. Es gab einen Volksentscheid, der dazu führte, dass die Behörde an sich nur noch überwachend agieren sollte, während jeder Beamte seine eigenen Fälle mit den elektronischen Daten abgleichen konnte und musste. Dadurch wurde HEOB installiert.
Armin hingegen hatte bisher keine Lust verspürt, damit zu arbeiten. Primär deshalb, weil die Fälle die er zu erledigen hatte, alle sehr eintönig waren und er es einfach nicht über sich brachte, sie abermals in die Hand zu nehmen.
Doch jetzt schien ihm ein guter Zeitpunkt, sich durch die Anleitung zu arbeiten. Schließlich erforderte das nicht zu viel Denkleistung und es sollte ihn von seinem heutigen Erlebnis ablenken. Der Bürostuhl knarzte verdächtig, als Armin sich zurück lehnte und die Maus über die angehängte Datei gleiten ließ.
Er öffnete sie und begann langsam zu lesen. HEOB sei dazu gedacht, alle elektronischen Informationen die sich über deutsche Bürger bei in- oder ausländischen Firmen oder Institutionen gespeichert sind zusammen zu führen.
Gelangweilt überflog er die Nutzungsbedingungen und Einsatzzwecke, bevor er zum praktischen Teil der Anleitung vorstieß.
Er nahm, wie ihm geheißen wurde, die älteste Akte von seinem Schreibtisch zur Hand und öffnete das Programm. Ein sanfter Blauton wurde überlagert von einem Suchfeld, das nach einem Namen und Geburtsdatum fragte. Armin holte den Befragungsbogen des Hauptverdächtigen des Falls hervor und tippte die nötigen Angaben sorgfältig ab.
Eine Bestätigung später kamen zwei Ergebnisse zum Vorschein. Jedes war mit einem Foto versehen, das scheinbar von der Personalausweisbehörde zu stammen schien. Er klickte auf seinen Verdächtigen und wurde mit einem leicht kryptischen Menü konfrontiert. Die Anleitung besann sich in diesem Teil, die verschiedenen Kategorien zu beschreiben. Armin begann mit „Allgemein“, einer Übersicht über Name, Anschrift, Geburtsdaten und anderes.
Als er dort nichts Neues fand, folgte er dem nächsten Punkt „Geräte“. Erstaunt stellte er fest, dass in diesem Reiter alle elektronischen Geräte und Fahrzeuge aufgezeichnet waren, die der Verdächtige besaß. Zwei Handys, ein Telefon, ein Internetanschluss und ein Motorrad. Interessiert glich Armin die Handynummern mit der in den Unterlagen ab und stellte fest, dass sie in ihren Unterlagen nur eine notiert hatten.
Jede der Nummern hatte mehrere Optionen im Programm. Er wählte den Unterpunkt „Aufenthalte“ und es wurde ihm eine Übersichtskarte von Deutschland präsentiert. Während sich links der Zoom einstellen ließ, gab es unten die Option, den Zeitraum einzugrenzen oder auf „live“ zu schalten. Armin nutzte die Karte um abzugleichen wo sich das nicht-identifizierte Handy zum Tatzeitpunkt aufhielt.
Ein Volltreffer. Während der Tatzeit befand sich das Mobiltelefon genau an der Ecke, wo der Raub geschehen ist. Auch die vermeintliche Fluchtroute ließ sich damit nachkonstruieren. Es war wie in einem Computerspiel, in dem er die Bewegung eines Mitspielers verfolgte.
Verblüfft lehnte sich Armin in seinem Stuhl zurück. Er ahnte, dass dies erst der Anfang von dem war, wozu das Programm fähig war. Ein leichtes Glücksgefühl überkam ihm, als sein Mund lautlos die Titel der anderen Kategorien nachformte. Es war nicht nur ein Überwachungsprogramm, es war eine Wissensdatenbank. Der gläserne Täter auf einem Silbertablett.
Ein Grinsen zeichnete sich auf Armins Gesicht ab, als er sich wieder vorbeugte, nach der Maus griff und sich weiter durch die Anleitung arbeitete. Von den siebzehn offenen Fällen schaffte er es fünf ganz abzuschließen und drei an eine andere Abteilung zu übermitteln, bevor sein Chef plötzlich neben ihm stand.
„Ganz schön umfassend, nicht wahr?“
Armin war so vertieft, dass er kurz zusammen zuckte. „Ja.. sehr informativ“ entgegnete er und schlug die vor sich liegende Akte zu. „Aber für heute ist genug, Saller. Gehen Sie nach Hause“ befahl ihm sein Abteilungsleiter, der bereits in Mantel und Hut gekleidet war, mit einem Kopfdeuten zur Tür. „Morgen ist auch noch ein Tag. Und wie wir wissen, vergisst HEOB nichts“ fügte er mit einem Grinsen hinzu.
Armin lachte kurz auf und nickte. „Bis morgen, Chef.“
Er tat so, als würde er seinen Schreibtisch aufräumen und die Akten stapeln. Sein Gegenüber wandte sich mit einem kurzen Gruß ab und ging hinaus in den Gang. Als dieser außer Sichtweise war, lauschte Armin kurz den sich entfernenden Schritten, bevor er sich erneut an das Programm setzte.
Fasziniert arbeitete er sich durch alle Funktionen und Unteroptionen. Er fügte die Puzzlestückchen zusammen, integrierte die Informationsflut von jedem Verdächtigen und schaffte es, weitere zwei Fälle zu einem Großteil zu bearbeiten, bevor er merkte, wie müde er schon war.
Es war spät nachts, als er sich schließlich auf den Weg zu seiner Wohnung machte. Sein Magen knurrte wie verrückt, als er ins Auto stieg, weshalb er beschloss, einen Umweg zu einem Schnellrestaurant zu machen. Er nutzte den Drive-Through, stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab und machte sich über seine Burger her.
Während er diese mit gierigen Bissen verschlang, dachte er über das Programm nach. Die Funktionen und woher all die Informationen stammten. Eines war zumindest sicher: Jede elektronische Transaktion wurde aufgezeichnet. Seien es Kredit- oder EC-Kartenzahlungen, Prämienmitgliedschaften oder E-Mails. Alle Webseitenabrufe die ein Mensch tätigte wurden vom Netzanbieter zwischengespeichert und an HEOB weitergeleitet. Das Handy, der ständige Begleiter, konnte jederzeit geortet werden und somit ließ sich ein Bewegungsprofil eines jeden Menschen erstellen.
Hastig stopfte sich Armin einige Pommes in den Mund, während er mit sich selbst zu diskutieren begann. Nicht nur konnte man das Bewegungsprofil eines Menschen erstellen, auch das Konsumverhalten. Wer wann was kauft. Wie lange die Milch hält, bevor sie eine neue kaufen. Welche Videos bei Onlineplattformen angesehen werden. Wer Pornografie ansah.
Armin stockte kurz und schluckte den Pommes-Burger-Brei hinunter. Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen den unglaublichen Möglichkeiten von HEOB und einer leicht aufkeimenden Paranoia. Er erinnerte sich an die Option, auch Autos zu verfolgen und dachte an den GPS-chip, der bei ihm unter der Motorhaube saß. Eigentlich gegen Autodiebstähle gedacht, war es das perfekte Lokalisationsmittel.
Als er nach dem letzten Burger in der Tüte griff, fiel der Kassenzettel heraus. Darauf prangerten Teile seiner Kontonummer und sogleich wusste er, dass auch HEOB wusste: Armin Saller, 34, saß um 23:14 MEZ in seinem Auto auf einem Parkplatz nicht unweit seiner Wohnung und stopfte Fastfood in sich hinein.
Wie aus einem Reflex aus alten Zeiten biss er zur Beruhigung so heftig in den Burger, dass der Ketchup von der anderen Seite heraus spritzte und seine Hose besprenkelte. Fluchend griff Armin nach einer Serviette und versuchte hektisch die Flecken wegzuwischen. Da spürte er etwas Ungewohntes in seiner Hosentasche.
Als die erste Verwunderung nach ließ, erstarrte er von einem Moment zum anderen. Die Visitenkarte in seiner Tasche zeichnete deutliche Umrisse in seiner dünnen Stoffhose. Wie ein wütender Wirbelsturm flogen die Gedanken durch seinen Kopf und er fasste einen Plan.
Fahrlässige Funken
Am nächsten Morgen wanderte er ruhelos in seiner Wohnung auf und ab. Er musste noch ein wenig warten, bevor er ins Präsidium fahren konnte, sonst wäre es zu auffällig. Normalerweise kam er nicht vor neun Uhr an, jetzt war es gerade einmal kurz nach sieben. Geschlafen hatte er kaum, da sich der Plan in seinem Kopf immer
weiter verselbstständigte.
Als erstes hatte er sich noch mitten in der Nacht durch die alten Jahrbücher seiner Schule gewühlt. Und da fand er den Eintrag. Thomas Wicht, Sternzeichen Löwe, geboren am 27. Juli 1985. Das Geburtsdatum war es, was ihm noch gefehlt hatte. Aber als ehemaliger Klassenkamerad war es ein Einfaches, dieses zu beschaffen.
Um acht Uhr hielt er es nicht mehr aus. Soweit es ihm möglich war, lief er zu seinem Auto und raste zum Büro. Außer Atem keuchte er die Treppenstufen hinauf und begegnete der Sekretärin des Chefs, die ihn erstaunt anblickte. Armin quälte ein Lächeln hervor, bevor er an ihr vorbei hetzte und sich auf seinen Stuhl fallen ließ.
Nun konnte es beginnen. Armin blickte sich nochmal kurz um, breitet als Alibi eine Akte vor sich aus und tippte dann langsam die Daten ein. Sogleich erkannte er Thomas‘ Gesicht auf einem sehr unvorteilhaftem Bild. Er unterdrückte ein Kichern und wählte das Profil aus.
Zuerst begann die Sondierungsphase. Armin verschaffte sich einen Überblick über die Datenlage. Thomas war verheiratet, keine Kinder. Drei Mobiltelefone, die Wohnung im besten Teil der Stadt. Zwei Autos liefen auf seinen Namen und zahlreiche Laptops. Mehrere Kredit- und EC-Karten waren auf seinen Namen im Umlauf. Etwa vierzig Fotos von verschiedenen sozialen Netzwerken und Behörden.
Während Armin alle registrierten Geräte durch ging, fiel ihm neben manchen ein kleines Kamerasymbol auf, das er am gestrigen Abend übersehen haben musste. Neugierig klickte er auf eines neben einem Mobiltelefon. Ein weiteres Fenster ging auf, blieb jedoch schwarz. Er wartete einige Sekunden ab und war gerade dabei es zu schließen, als plötzlich Thomas‘ Stimme aus seinen Lautsprechern drang.
„Ich weiß, Marie. Und es tut mir leid. Aber nun wird alles besser, glaub‘ mir doch. Der Vertrag ist abgeschlossen und…“. Armin klickte hektisch auf das X des Fensters. Sein Herz begann zu rasen, während er versuchte einzuordnen, was gerade geschehen war. Dann dämmerte es ihm. Er konnte nicht nur die Position des Telefons bestimmen, sondern sogar auf die Kamera und das Mikrofon zugreifen.
Die Hitze stieg Armin ins Gesicht und er konnte sein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte Butterkekse hervor. Während er sich einen davon zwischen die Zähne schob, blickte er scheinbar gedankenverloren auf den Monitor. Doch innerlich arbeitete er die weiteren Schritte aus.
Kaum hatte er den Keks hinunter geschluckt, kramte er in seinem Schreibtisch nach den Kopfhörern, der ihnen am Anfang ihres Diensts als Ausstattung überreicht wurde. Noch originalverpackt lagen sie ganz hinten, in der untersten Schublade. Es kostete Armin etliche Anstrengung, sie überhaupt zu erreichen. Doch jetzt war der Zeitpunkt für den Einsatz gekommen.
Er stöpselte den Kopfhörer ein und klickte abermals auf das Kamerasymbol. Wieder hörte er Thomas diskutieren, scheinbar mit einer Frau. Gebannt lauschte Armin und machte sich Notizen, als plötzlich Bewegung in das schwarze Bild kam. Er sah Thomas‘ Augen auf dem Bildschirm auftauchen, welche ihn direkt fixierten. Er versteinerte und es lief ihm eiskalt über den Rücken.
Doch statt darauf einzugehen, schien Thomas nur das Touchpad seines Mobiltelefons zu bedienen. Armin hatte Schwierigkeiten zu realisieren, dass er gar nicht gesehen wurde. Schließlich war es kein Videochat sondern der unbemerkte Zugriff auf die Kamera. Als Thomas das Telefon wieder zur Seite gelegt hatte, schloss Armin das Fenster erneut.
Während die anderen Daten alle statisch waren, war diese Funktion im Moment noch zu aufregend für ihn. Das Gefühl, als Spion direkt neben seinem Ziel zu stehen und zu lauschen, ließ ihn die Luft anhalten und er bekam Herzrasen.
Die nächsten Stunden verbrachte Armin damit, sich weiter durch Thomas‘ Leben zu wühlen. Er fand heraus, dass beide Autos sowie die Wohnung auf Kredit gekauft waren. Generell schien es ihm finanziell nicht so blendend zu gehen, wie er scheinbar anderen weiß machen wollte.
Den Nachmittag über nahm er sich die Internethistorie von Thomas vor. Zuerst sortierte er nach der Anzahl der Seitenaufrufe, dann durchsuchte er sie nach Stichwörtern. Immer weiter drang er in Thomas‘ Leben ein, ohne dass der davon wusste. Er fand heraus, dass sein ehemaliger Schulkamerad mehrere Mitgliedschaften bei Pornoseiten hatte, was ihn wieder zu einem Grinsen verleitete.
„Der große Thomas Wicht hat es nötig, sich einen zu schütteln, weil ihn seine Frau nicht mehr ran lässt“ ging es ihm durch den Kopf, woraufhin er sogar kurz auflachen musste. „Mal sehen, was er noch so treibt.“
Während Nachforschungen fand er immer wieder Ereignisse, die nicht ins Bild passten. Es waren einmal ein teures Essen, ein Hotelbesuch oder auch ein paar Onlineeinkäufe, die aus der Reihe fielen. Armin ging durch sämtliche Optionen des Programms, um die Details dieser Ausgaben zu ergründen und bemerkte, dass Lieferungen teilweise an eine andere Adresse gingen.
Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Thomas hatte beim ersten Lauschangriff zu einer Marie gesprochen, doch laut HEOB hieß seine Frau Laura. Hektisch zog Armin die Maus umher und hatte bald den Namen von Thomas‘ Affäre auf seinem Zettel stehen. Gerade als er dabei war weitere Details über die Dauer zu notieren, klopfte es an der Tür.
„Saller, sind sie aus ihrer Wohnung geflogen oder wieso sind sie schon wieder so spät hier?“ fragte sein Chef im üblich kumpelhaften Ton. Armin schreckte auf und blickte kurz panisch zur Tür, bevor er ein Lachen hervorpresste. „Nö Chef, ich will nur endlich die Fälle hier abschließen, bevor ich in den Urlaub gehe“ log er und deutete auf die eine kümmerliche Akte, die vor ihm auslag.
Sein Vorgesetzter zog die Augenbrauen hoch, deutete ein Nicken an und fügte hinzu „Aber machen Sie nicht zu lange Saller, nicht, dass ich sie dann wegen Burnout beurlauben muss“. Armin schüttelte energisch den Kopf und wünschte einen schönen Abend, bevor er sich wieder HEOB zuwendete.
Während sich die Schritte seines Abteilungsleiters entfernten, atmete Armin tief durch. Die Gefahr erwischt zu werden, vor allem wenn er sich so lange hier aufhielt, war einfach zu groß. Daher beschloss er, sich selbst darauf zu beschränken, jeden Tag nur ein paar Stunden an seinem Privat-Fall zu arbeiten.
Die nächsten zwei Wochen waren geprägt von der Versuchung, sich in Thomas‘ Daten und Unterlagen einzuklinken, sowie der Angst, erwischt zu werden. Er schaffte es, sich zu limitieren und hatte dadurch einen wunderbaren Überblick über das tägliche Leben des Geschäftsmannes und seiner Frau, sowie der Affäre. Auch bei seinen Arbeitspartnern klinkte sich Armin ab und an ein, fand aber keine persönliche Bindung, was daher schnell eintönig wurde.
Vier Wochen später hatte er alles beisammen. Er hatte genug Unterlagen, um Thomas‘ Frau von seiner Affäre zu überzeugen, einschließlich einiger Fotos von den beiden zusammen im Bett. Armin wunderte sich noch immer, wer einen Computer mitsamt Webkamera in sein Schlafzimmer stellt.
Weiterhin hatte er mehrere Gesprächsausschnitte aufgezeichnet, bei denen Thomas schlecht über seine Geschäftspartner redet – und vice versa. Dies sollte genügen um einen Keil zwischen diese arroganten Anzugträger zu treiben.
Das Beste allerdings, das er gefunden hatte, waren mehrere E-Mails, dass ihre Firma den Großauftrag den sie angenommen hatte, eigentlich gar nicht erfüllen konnte. Wie sie das Problem zu lösen gedachten war Armin nicht klar; dass es ihrem Auftraggeber nicht gefallen würde, hingegen schon.
Nachdem er sich einen weiteren Tag Zeit genommen hatte, ging er endlich ans Werk. Er ließ jede der Informationen an die jeweiligen Stellen gelangen, ohne dass sein Eingreifen sichtbar wurde. Die Frau erhielt einen anonymen Umschlag, den Geschäftspartnern wurde etwas auf die Voicemail gesprochen und dem Auftraggeber wurde scheinbar versehentlich eine E-Mail weitergeleitet.
Nervös wie ein kleines Kind setzte sich Armin die Kopfhörer auf und klinkte sich in Thomas Arbeitscomputer ein. Er musste nicht lange warten. Der erste Anruf war von seiner Frau, die wie von Sinnen auf ihn einschrie.
Thomas hatte gar keine Möglichkeit sie zu beruhigen, denn schon klingelte das andere Telefon. Der Auftraggeber verlangte eine umgehende Stellungnahme. Als dann noch die Tür aufgerissen wurde und einer der Geschäftspartner ihm zu beschimpfen begann, sah Armin, wie Thomas unterging.
Es war einfach zu viel für ihn. Er konnte sich der Angriffe der verschiedenen Parteien einfach nicht mehr erwehren. Thomas versuchte noch zu argumentieren und zu beschwichtigen, doch es half nichts. Während der darauf folgenden zwei Wochen kündigten sie ihm den Vertrag, die Firma als auch die Ehe.
Armin saß während dieser Stunden wie gebannt vor dem Computer und verfolgte das Treiben. Er konnte sich nicht mehr los reißen, es war für ihn wie eine spannende Fernsehserie, für die er selbst das Drehbuch geschrieben hatte. Die Genugtuung, die er verspürte, ließ ihn jede Nacht so ruhig schlafen wie noch nie.
Jeden Morgen hingegen hetzte er ins Büro, um ja keine Minute des Schauspiels zu verpassen. Mehrmals spielte Armin mit dem Gedanken, ihn anzurufen. Ihn auf das angesprochene Bier einzuladen. Aber dazu war er zu feige. Es genügte ihm, von fern mit zu verfolgen, wie er seinen größten Peiniger in die Knie zwang.
Leider hatte seine Arbeit unter der gesamten Aktion gelitten und damit ihm niemand auf die Schliche kam, musste er nun den Rückstand aufarbeiten. Dadurch kam es, dass teilweise Tage vergingen, an denen Armin zu beschäftigt war, um seinem Kontrahenten einen virtuellen Besuch abzustatten.
Der Hochsommer hielt gerade Einzug, als er eine E-Mail abfing, die die Räumung von Thomas‘ Wohnung ankündigte. Daraufhin beschloss er abermals, Thomas einen Besuch abzustatten. Virtuell, versteht sich. Armin nutzte die Webcam des großen TV-Geräts in der Wohnung und sah Thomas auf der Couch sitzen, wie viele Male zuvor. Es war gerade einmal 10 Uhr vormittags, vor dem unrasierten Häufchen Elend stand jedoch bereits eine Flasche Whiskey, welche zur Hälfte geleert war.
Armin verzog die Mundwinkel, als er erkannte, dass das heutige Datum dem Geburtstag von Thomas entsprach. Ein Zufall, aber doch kein schlechter. Gelangweilt blickte er auf seinen Schulkameraden, konnte sich aber nicht satt sehen an seinem Sieg. „Wer zuletzt lacht“ murmelte er vor sich hin. Thomas war gebrochen. Endlich war in Erfüllung, was Armin sich fast ein Jahrzehnt lang gewünscht hatte. Er hatte gewonnen.
Ein breites, selbstgefälliges Grinsen breitete sich über Armins Gesicht aus. Da kam Bewegung in seinen ehemaligen Klassenkameraden. Thomas schenkte sich ein neues Glas ein, dieses Mal war es voll bis zum Rand.
Seine Bewegungen waren bereits fahrig, Armin meinte sogar Tränen auf seinen Wangen erkennen zu können. Selbstgefällig lehnte er sich zurück und beobachtete, wie Thomas das ganze Glas auf einen Zug leerte. Ein abfälliges Zischen glitt durch Armins Lippen.
Thomas erhob von der Couch, wankte, hatte Probleme einen sicheren Stand zu finden. „Na, dann gute Nacht, mein Prinz“ dachte sich Armin, als sich Thomas auf das Fernsehgerät zubewegte. Doch statt es auszuschalten, kehrte er wenige Sekunden später zur Couch zurück.
Armin zogen die Augen zusammen. Irgendetwas hatte Thomas geholt. Es war ein silberner, glänzender Gegenstand. Noch während Armin versuchte zu erkennen, worum es sich handelte, zog Thomas mit einer Hand den metallenen Lauf der Pistole zurück. Alle Farbe wich aus Armins Gesicht. Hektisch klickte er sich durch alle Kategorien von HEOB. Die Waffe war nirgends aufgeführt. Sie war nicht erfasst. Er hatte davon nichts gewusst. Nichts davon wissen können.
Armin begann zu zittern, als er auf dem Bildschirm verfolgte, wie Thomas die Waffe langsam zur Stirn führte.
„NEIN!“ schrie er den Bildschirm an. Ohne es zu merken, war er aufgesprungen, rüttelte mit beiden Händen am Monitor und schrie abermals. „NEIN!“
Seine Kollegen drehten sich in seine Richtung, manche standen langsam auf und begannen sich in die Richtung des Geschreis zu bewegen. Doch egal was noch geschah, es war alles zu spät. Alles was Armin noch sah, war der helle Blitz, die rote Fontäne und wie Thomas‘ Körper vornüber kippte.