Ehemaliger Präsident der Datenschutzkommission: «Die Politik bewegt sich kaum. Es ist erschütternd.»

Privatsphäre
Foto: optikfluffel

Im aktuellen Plädoyer 1/14 wurde Rainer J. Schweizer, emeritierter Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität St. Gallen, interviewt. Einige Aussagen bleiben leider etwas unklar – da wäre eine Diskussion oder ein Nachfragen interessant gewesen. Der ehemalige Präsident der Eidgenössischen Datenschutzkommission findet zum Datenschutz und der Überwachung durch Geheimdienste jedoch deutliche Worte:

Das amerikanische Verständnis im Datenschutz ist: «Jeder soll sich selbst wehren. Business geht vor.» Die Schweiz wird als Kleinstaat von den USA kein Datenschutz und schon gar kein No-Spy-Abkommen erhalten. Es ist also unerlässlich, dem Wildwuchs von staatlichen und privaten Schnüffeleien Grenzen zu setzen und im europäischen und schweizerischen Recht gezielt Instrumente für den informationellen Persönlichkeitsschutz zu entwickeln.

Zudem muss das unbefugte Verwenden von Daten zur Identifikation einer Person bestraft werden, wie in Frankreich. Solche neuen Gesetze wären erhebliche Schritte. Ich spreche im Konjunktiv. Die Politik bewegt sich kaum. Es ist erschütternd.

Spannend ist die Feststellung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber seiner EinwohnerInnen hinsichtlich einer ausufernden Überwachung – und dass diese bspw. über eine Strafanzeige, wie sie die Digitale Gesellschaft eingereicht hat, eingefordert werden kann:

Der Staat hat gemäss der Theorie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die das Bundesgericht zögerlich mitträgt, gewisse fundamentale Schutzpflichten. Doch sie bestehen nur bei schwerer Gefährdung. Man darf daraus nicht generelle Leistungspflichten und Rahmenbedingungen ableiten. Aber es fragt sich, ob in der elektronischen Kommunikation nicht schon eine schwere Gefährdung vorliegt, sodass sich Schutzpflichten über Feststellungsbegehren oder Strafanzeigen einfordern liessen.

Es sind Strassburg und Luxemburg, die heute die EMRK und nach dem Lissaboner Vertrag nun die Grundrechts-Charta der EU wirklich ernst nehmen. Davon verspreche ich mir, dass die Gerichte die Unabhängigkeit haben, den Individualrechtsschutz in Europa zu sichern. Was das Bundesgericht in Lausanne anbelangt, bin ich mir nicht so sicher. Die informationsrechtlichen Urteile der letzten Jahre zeigten wenig Grundsätzlichkeit.

Für den geplanten, massiven Ausbau der Überwachungstätigkeiten des Nachrichtendienstes des Bundes hat Rainer J. Schweizer dann wenig Verständnis:

Ich habe in den 1990er-Jahren die These vertreten, dass der Bund in einem Kernbereich von gewalttätigem Extremismus oder Spionagebekämpfung eine gewisse Kompetenz haben soll. Das ist wohl weiterhin richtig. Aber die VBS-Vorlage bringt eine extreme Ausweitung: Der Nachrichtendienst will nämlich präventiv-polizeilich weit über den Staatsschutz hinausgehen, inklusive Einsatz von neuen Zwangsmassnahmen – aber ohne offene gerichtliche Kontrolle. Es geht hier um ein Rechtsstaatsproblem: Geheimdienst und Staatsschutz ziehen ausserhalb aller justiziellen Verfahren im Inland und mit dem Ausland geheime Kommunikationen auf. Sie unterlaufen mit diesen Datenaustauschen jegliche gesetzliche Überprüfung. Der Verkehr mit ausländischen Diensten ist in der Schweiz bisher völlig regelfrei.

Wir müssen uns eingestehen, dass die bisherigen Kontrollmechanismen in der Schweiz wie im Ausland kaum viel taugen – sogar die parlamentarische Kontrolle. Die für den Staatsschutz zuständige Delegation der GPK hat nun immerhin begonnen, Fälle anzusehen. Nun werden auch mal Akten angefordert. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Aber man wird dennoch an der Nase herumgeführt. Ich musste als Gerichtspräsident diese Nachrichtendienste 13 Jahre lang im Falle von Auskunftsgesuchen überwachen. Wenn jemand ein Auskunftsgesuch stellt, wird zuerst der Datenschutzbeauftragte beigezogen. Dann entscheidet heute ein Abteilungspräsident des Bundesverwaltungsgerichts, früher war es eine Kammer des schweizerischen Datenschutzgerichts. In jenen Jahren lagen dem Gericht praktisch nie dieselben Akten von einer Sitzung zur anderen vor – und kaum je dieselben Akten, die der Datenschutzbeauftragte Thür zuvor gesehen hatte! Ein direkter Zugriff auf die Dateien wurde nie zugelassen. Ein solcher Kontrollmechanismus ist untauglich.

Es müsste ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren geben mit mindestens einem unabhängigen Datenschutzanwalt mit Klagerecht. Ein Datenschutzbeauftragter ist in Ordnung, da er Protokollierungen und Löschungen in der Informatik kontrollieren kann.

Die parlamentarische Kontrolle müsste auch viel mehr eine Fallkontrolle sein. Sie müsste vor allem über jeden Einsatz von geheimen Zwangsmitteln informiert werden, so wie in Deutschland.

Um die Sache gerade zu rücken, brauchte es jedoch eine umfassendere Herangehensweise und verschiedene Massnahmen:

Es sind gezielt Verteidigungsrechte für die einzelnen Menschen zu schaffen – im nationalen, europäischen und internationalen Recht. Darüber hinaus ist zu prüfen, welche Instrumente einsetzbar sind. Voraussetzung ist, dass der Bundesrat hinsteht und sagt, dass das Handeln von Unternehmen, anderen Staaten und eventuell gar von eigenen Dienststellen kriminell ist und dass unser Recht verbessert werden muss, um den Bürger zu schützen. Wie sich Behörden bislang vor der Verantwortung drücken, erinnert an die Zeit vor der Fichen-Affäre! Doch immer sind wir selber verantwortlich für unseren Privatsphärenschutz, und wir müssen die Situation auch kulturell überdenken.

Das komplette Interview steht leider nicht online zur Verfügung.