Was ist die Vorratsdatenspeicherung?
In der Schweiz sind sämtliche Anbieterinnen von Post-, Telefon- und Internetdiensten verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer KundInnen – wer, wann, mit wem kommuniziert – für sechs Monate aufzuzeichnen. Weil von dieser Überwachungsmassnahme ausnahmslos alle betroffen sind, stellt sie einen unverhältnismässigen Eingriff in den verfassungsmässig garantierten Schutz der Privatsphäre dar.
Welche Daten werden aufgezeichnet?
Die Datensammlung umfasst, wer wann wen angerufen hat und wie lange das Gespräch gedauert hat; wer sich wann ins Internet eingeloggt hat und für welche Dauer und wer wann wem eine SMS geschickt oder auf ein E-Mail-Postfach zugegriffen hat. Zudem werden die Standortinformationen des Mobiltelefons gespeichert. Der Katalog umfasst ebenfalls unzählige administrative Angaben, über Telefonnummern, Abonnemente und Zahlungsvorgänge.
Da moderne Smartphones praktisch permanent mit dem Internet verbunden sind (auch wenn nicht aktiv kommuniziert wird), werden durch das Aufzeichnen der verwendeten Handyantennen praktisch lückenlos die Aufenthaltsorte der BenutzerInnen auf wenige hundert Meter genau protokolliert.
In welchen Fällen werden diese Daten verwendet?
Für einen Zugriff reicht der «dringende Verdacht auf ein Verbrechen oder Vergehen» – im Fall eines Missbrauchs einer Fernmeldeanlage sogar der Verdacht auf eine Übertretung. Die Verwendung der Vorratsdaten ist also nicht auf schwerste Straftaten beschränkt, sondern ist auch bei minder schweren Delikten, wie einfacher Diebstahl, Urheberrechtsverletzung oder falschem Alarm möglich.
Bei sämtlichen Straftaten über das Internet – also selbst bei einer Beleidigung -, sind die Provider gezwungen, eine Identifikation des Urhebers oder der Urheberin zu ermöglichen. Es braucht dazu auch keinen richterlichen Beschluss.
Mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz soll es auch dem Nachrichtendienst des Bundes möglich sein, auf die Daten zuzugreifen. Dieser Eingriff stellt eine der sogenannten «genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen» dar. Wie bei der Strafverfolgung braucht es zur Identifikation von Internetbenutzern jedoch keinerlei Bewilligung. Es reicht eine «konkrete Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit».
Wer nichts verbrochen hat, hat auch nichts zu befürchten – oder?
Mit der Vorratsdatenspeicherung wird jede Person unter Generalverdacht gestellt und präventiv überwacht. Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht. Es sind auch keine Ausnahmen für Anwältinnen, Journalisten, Ärztinnen, Geistliche oder die Suchtmittelberatung vorgesehen. Die Vorratsdatenspeicherung kollidiert also auch mit dem Berufsgeheimnis.
Mit den Daten kann nicht nur ermittelt werden, wo sich eine verdächtige Person jeweils befunden hat, sondern auch, welche Mobilfunk-TeilnehmerInnen zu einem bestimmten Zeitpunkt sich an einem bestimmten Ort aufgehalten haben, da ihr Handy die gleiche Antenne benutzt haben. Durch eine solche Rasterung (auch Antennensuchlauf genannt) geraten unter Umständen Hunderte von Personen unter Verdacht und sind gezwungen, ihre Unschuld nachzuweisen.
Wie das deutsche Bundesverfassungsgericht festgehalten hat, ist die Vorratsdatenspeicherung daher geeignet, «ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann».
Dies gilt unabhängig davon, ob die Daten auch tatsächlich ausgewertet werden. Eine blinkende Überwachungskamera erfüllt auch als Attrappe ihre disziplinierende Funktion.
Ist es denn nicht offensichtlich, dass diese Daten zur Verbrechensaufklärung beitragen und daher benötigt werden?
Leider gibt es nur wenige Studien, welche die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung zur Verbrechensbekämpfung analysieren. Genauso fehlen Untersuchungen zur benötigten Aufbewahrungsdauer der Daten.
Das Max-Planck-Institut kommt in einem Gutachten im Auftrag des deutschen Bundesamtes für Justiz zum Schluss: «Im Vergleich der Aufklärungsquoten, die in Deutschland und in der Schweiz im Jahr 2009 erzielt worden sind, lassen sich keine Hinweise darauf ableiten, dass die in der Schweiz seit etwa 10 Jahren praktizierte Vorratsdatenspeicherung zu einer systematisch höheren Aufklärung geführt hätte.»
Um einen «schweren Eingriff» in die Grundrechte vorzunehmen, wie es die Vorratsdatenspeicherung ist, braucht es eine sorgfältige Begründung dessen Erforderlichkeit. Eine pauschale Begründung, die Vorratsdatenspeicherung könne die «Gefahrenabwehr» und die «Strafverfolgung» erleichtern, genügt nicht.
Eine Einschränkung von Grundrechten ist unrechtmässig, wenn die Nützlichkeit der Massnahme nicht nachgewiesen werden kann.
Werden die Daten aus der Vorratsdatenspeicherung von den Providern nicht sowieso gespeichert?
Manche Daten aus der Vorratsdatenspeicherung werden von den Providern auch für die Abrechnung, bzw. den Verbindungsnachweis benötigt. Diese Informationen für die Behörden strukturiert für ein halbes Jahr aufzubewahren und über standardisierte Schnittstellen zur Verfügung zu stellen, verändert jedoch den Charakter der Datensammlungen sowie deren Risiken deutlich.
Die Vorratsdatenspeicherung erfasst auch viele Daten, welche für die Abrechnung nicht benötigt werden. E-Mail-Randdaten, Einwähldaten ins Internet, benutzte Handyantennen etc. müssten ohne Vorratsdatenspeicherung nach der Erbringung der Dienstleistung gemäss Datenschutzgesetz gelöscht (oder komplett anonymisiert) werden.
Anstelle einer flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung könnten bei begründetem Verdacht, im Rahmen von sogenannten Quick-Freeze-Verfahren, die Daten von einer Person oder einer Gruppe bei den Anbieterinnen eingefroren und per Gerichtsbeschluss verfügbar gemacht werden.
Was sagen die Gerichte zur Vorratsdatenspeicherung?
Sämtliche Verfassungsgerichte, welche eine zur Schweiz vergleichbare Regelung zu prüfen hatten, haben die Vorratsdatenspeicherung als unrechtmässigen Eingriff in die Grundrechte eingestuft – und sie aufgehoben: Rumänien (2009, 2014), Deutschland (2010), Tschechien (2011), Österreich (2014), Niederlande (2015), Bulgarien (2015).
2014 wurde auch die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vom Europäischen Gerichtshof ausser Kraft gesetzt. Der Gerichtshof beurteilt die EU-Richtlinie als Eingriff in die Grundrechte «von grossem Ausmass und von besonderer Schwere». Der Gesetzgeber habe mit der Richtlinie «die Grenzen überschritten, die er zur Wahrung der Grundsatzes der Verhältnismässigkeit» einhalten musste.
Auch der UNO-Kommissar für Menschenrechte äusserte sich 2014 sehr kritisch zur Vorratsdatenspeicherung: «Die Speicherung von Kommunikationsdaten stellt einen Eingriff in die Privatsphäre dar, und zwar unabhängig davon, ob die Daten dann tatsächlich abgefragt werden oder nicht. Dieser Eingriff in die Privatsphäre hat weiter negative Auswirkungen auf die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.»
Und in der Schweiz?
In einer Analyse des Urteils zur EU-Richtlinie kommen die spezialisierten Schweizer Anwälte Simon Schlauri und Daniel Ronzani zum Schluss: «Der schweizerische Gesetzgeber, der derzeit gerade an einer erheblichen Verschärfung der Vorratsdatenspeicherung arbeitet, täte gut daran, die Frage nach der Verfassungsmässigkeit der Vorratsdatenspeicherung noch einmal ganz grundsätzlich zu stellen.»
Auch in der Schweiz sehen die Bestimmungen zur Vorratsdatenspeicherung keine Zweckbindung der Daten, keine Löschpflicht nach Ablauf der 6 Monate und auch keine Sorgfaltspflicht für die Provider vor. Ein Auskunftsrecht für die Betroffenen gibt es nicht.
Die Digitale Gesellschaft hat deshalb ein Gerichtsverfahren angestrengt. Die Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung ist aktuell am Bundesverwaltungsgericht hängig.
Dieser Text steht auch als handliches Faktenblatt Vorratsdatenspeicherung zum Download zur Verfügung.