Dieses äusserst empfehlenswerte Referat wurde im Rahmen des NZZ-Podiums «Überwachungskultur» von Manfred Schneider gehalten. Manfred Schneider ist Professor em. für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr- Universität Bochum. Mit freundlicher Erlaubnis dürfen wir das Referat an dieser Stelle publizieren. Eine gekürzte Version kann auf nzz.ch nachgeschlagen werden.
In seiner 1651 erschienenen staatstheoretischen Abhandlung «Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates» erklärt Thomas Hobbes, warum sich die Menschen des ursprünglichen Naturzustandes dazu entschlossen hätten, den Krieg aller gegen alle zu beenden, und warum sie auf einen Teil ihrer Freiheiten verzichteten, um sie einem Staatssouverän zu übertragen. Die Menschen, wie Hobbes erklärt, unterwerfen sich staatlicher Macht, weil sie den Tod fürchten (fear of death). Getrieben von der Angst, durch Nachbarn oder äussere Feinde zu Tode zu kommen, unterzeichnen sie den Gesellschaftsvertrag. Neben dem Schutz des Lebens gibt es einen zweiten Antrieb, der sie in den Vertrag treibt: Es ist der Wunsch nach einem bequemen Leben (commodious living). So bilden Todesangst und der Wunsch nach Annehmlichkeit nach Hobbes die Raison d’Etat, den affektiven Grund für die Bildung eines vernünftigen Staates.
Man möchte meinen, dass die Gesellschaften des Westens sich gegenwärtig genau unter diesen beiden Antrieben grundlegend neu organisieren: aus neuer Todesangst und unter der Dauerverlockung nach bequemem Leben. Gewiss haben sich seit 1651 die Bedeutungen dessen, was «Furcht vor dem Tode» und erst recht was «Bequemlichkeit» jeweils heisst, ebenfalls radikal verändert. Doch ein solcher Bedeutungswechsel hat ebenso alle anderen Ideen und Wertbegriffe erfasst, die im 17. und 18. Jahrhundert geprägt wurden und in den Verfassungen der liberalen Staaten als Rechte beschworen sind. Daher stehen wir heute immer wieder vor dem Dilemma, diese Begriffe und Rechte der alten Konstitutionen auf die neuen Wirklichkeiten unserer Tage abzustimmen und ihren normativen Gehalt mit dem evolutionären Stand von Wissen, Technik und sozialer Ordnung abzugleichen.
Nun findet man in keiner Charta der westlichen Welt diese Begriffe «Todesangst» und «Bequemlichkeit» wörtlich niedergelegt, sondern lediglich sinngemäss: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 garantiert das Recht auf Leben, auf Freiheit und Glück. Die französische Assemblée nationale erteilte 1789 dem Staat den Auftrag, Freiheit, Eigentum, Sicherheit und den Schutz vor Fremdherrschaft zu gewährleisten. Entsprechende Garantien erteilen die Verfassungen nahezu aller demokratischen Länder. Doch heute drängt sich im Zeichen unseres Themas «Überwachungskultur» der Eindruck auf, dass in den westlichen Staaten, zumal in den USA, weniger die Garantie des Lebens und die Sicherung der Freiheit die Leitlinien der Sicherheitspolitik bestimmen als vielmehr die Furcht vor dem Tode. Das mag auf den ersten Blick als das Gleiche erscheinen: Aber das Recht auf Leben und die Menschenwürde decken einen sehr viel grösseren Bereich ab (man denke nur an den Embryonenschutz) als die Vorsorge gegen den gewaltsamen Tod. Die Entwicklung von neuen Sicherheitstechnologien sowie die historisch einmalige Ausweitung der Überwachungsaktivitäten der westlichen Staatsorgane stehen gegenwärtig im Zeichen der Furcht.
So gilt auch für die andere Triebkraft, die Hobbes als Grund für den Gesellschaftsvertrag nennt, für das Streben nach bequemem Leben, dass in unseren Tagen beim Wunsch nach den Annehmlichkeiten des Lebens andere Bilder vor Augen treten als zur Zeit der Konstitutionen im 18. Jahrhundert. Zumal unter den Gegebenheiten der hypermodernen Informationstechnologien wachsen den eben befriedigten Wünschen unablässig neue nach. Um es zu pointieren: Auf besorgniserregende Weise laufen gegenwärtig Todesangst, vor allem die Angst vor terroristischen Gewalttaten, und ein unübersehbar gewordenes Angebot an Bequemlichkeitstechnologien darauf hinaus, das Leben in den westlichen Gesellschaften zu revolutionieren.
Ich möchte mein Impulsreferat auf diese beiden Gesichtspunkte konzentrieren. Es ist klar, dass das Thema «Überwachungskultur» sehr viele Unterthemen enthält. Nimmt man «Kultur» einfach als Inbegriff allgemeiner, eingespielter und nicht weiter befragter Praktiken, dann zählen dazu einmal die Millionen Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen, Bahnhöfen, Parkplätzen, an den Mauern von Luxuswohnanlagen, in Betrieben und Schulen, aber auch in Kaufhäusern und Boutiquen. Weniger sichtbar sind die Satellitenaugen und Drohnenkameras, die als militärisch-strategischer und militärisch-exekutiver Blick die kritischen Zonen des Erdballs absuchen. Einen zweiten Komplex bildet das Monitoring von Vorgängen in der Natur, Technik, Gesellschaft, Industrie und dem Verkehr. Zum dritten Komplex gehören die zahlreichen Verfahren der Leistungskontrolle in Behörden und Betrieben. Im Aufgabenbereich der Verbrechensbekämpfung haben sich die Polizeibehörden und Sicherheitsorgane aufgerüstet, indem sie Bewegungen, Kommunikationen und andere Daten verdächtiger Personen aufzeichnen. Zum zentralen politischen Thema der Überwachungskultur ist allerdings die nur allzu bekannte exzessive geheimdienstliche Überwachung aufgerückt, die unter den Antrieben des Fear of Death steht. Zu dieser Kultur gehört überdies, nahezu weltweit, der Aufbau biometrischer Datenbanken, die sich die anderen «Verwaltungen des Ungewissen», nämlich Polizei, Grenzbehörden, Fluggesellschaften, als Partner einer «globalisierten Unsicherheit» teilen (Zygmunt Baumann). Die Dinge entwickeln sich weiter: Krankenkassen überwachen die Lebensstile ihrer Kunden und wollen demnächst Erbinformationen in Risiken umrechnen. Kraftfahrzeugversicherungen zeichnen das Fahrverhalten und die GPS-Daten ihrer Kunden auf und generieren aus diesem Wissen Risikoprofile und Tarife. Und blicken wir in die sogenannte Privatsphäre, insbesondere auf die elektronischen Arbeits- und Spielgeräte des Commodious Living, so hinterlassen die Maschinen und Programme über Google, E-Mail, durch Mobiltelefone, Kreditkarten, Käufe in Internetshops Unmengen von Konsumentendaten, die systematisch gespeichert und ausgewertet werden. Des Weiteren geben wir in den Netzwerken und Social Media Facebook, Twitter, Instagram, auf Diskussionsforen und über Whatsapp unablässig Daten, Bilder, Nachrichten von uns weiter, die es darauf spezialisierten Unternehmen erlauben, sehr differenzierte Persönlichkeitsbilder zu erstellen. Ein letzter Komplex der Überwachungskultur ist die Selbstüberwachung, das Self-Tracking, bei dem gesundheitsbewusste Personen kontinuierlich Körperdaten, Blutdruck, Puls, Schlafzeiten, Traumphasen, Joggingrunden oder Kalorienverbrauch erheben. In nächster Zukunft ergänzen den Maschinenpark der Supervision immer mehr Drohnen, die schon jetzt manche Unternehmer zu Überwachung von Baustellen einsetzen. Und schliesslich arbeiten die Neurowissenschafter daran, Gehirne auszulesen und damit neue Formen gerichtlicher Beweise einzuführen.
Dies ist eine grobe Zusammenfassung. Sie ist unvollständig und unterscheidet nicht immer genau zwischen Beobachtung und Überwachung. Natürlich ist auch sehr vieles davon sinnvoll und hilfreich. Aber dieser knappe Überblick reicht, um zu erkennen, dass Überwachung ein beinahe totales Ausmass angenommen hat. Kontinuierlich werden von nahezu allen Vorgängen auf dem Erdball digitale Kopien in verschiedenen Formaten hergestellt, die zumal die zivile Welt unter der Kontrolle von unzähligen technischen Augen und Aufzeichnungsgeräten hält. Gewaltige Datenspeicher und immer komplexer entwickelte Algorithmen erlauben es, diese Daten unter den verschiedensten Parametern auszuwerten.
Ich möchte mich aber, wie gesagt, auf die beiden Aspekte der Überwachungskultur konzentrieren, mit denen, wie es scheint, die von Hobbes genannten Staatsgründungsantriebe Todesfurcht und Bequemlichkeit ganz neu technisch implementiert und sozial wirksam werden. Die Todesfurcht hat sich in dem neuerdings fast unkontrollierbar gewordenen geheimdienstlichen Handeln eine Schutzwehr geschaffen. Die Abschöpfung nahezu aller Kommunikationsdaten der Welt, die im Verbund westlicher Geheimdienste erfolgt, wird mit der Abwehr von terroristischen Gefahren begründet. Dass es diese Gefahren gibt, steht ausser Zweifel, dass ihre Abwehr indessen die zivile Ordnung der bedrohten Gesellschaften unterläuft, ist noch gefährlicher. Zwar arbeiten die Geheimdienste prinzipiell im staatlichen Auftrag, sie sehen sich aber neuerdings technisch herausgefordert und halten es für unvermeidlich, ohne Rücksicht auf Vorschriften und rechtliche Begrenzungen zu handeln. Die Todesfurcht, die der internationale Terrorismus auslöst, hat die Geheimdienste weltweit in einen dauernden, halb kriegerischen Ausnahmezustand versetzt, den sie mit Duldung der Regierungen auch exzessiv ausnutzen. Dass sich daran etwas ändert, ist kaum an-zunehmen, denn längst sind auch die Herstellung und der Export von IT-Systemen für Computer- und Smartphone-Überwachung ein blühender Wirtschaftszweig, der sich ähnlich wie die Waffenindustrie tendenziell der politischen Kontrolle entzieht.
Diese vielen Formen der Überwachung und Kontrolle haben es auch darum so leicht bei ihrer Kulturwerdung, weil sie völlig schmerzlos sind. Im Jahre 1790 noch hat Jeremy Bentham, der vielzitierte Erfinder der ersten totalen Überwachungstechnik, des Panoptikums, Vorschläge zur peinlichen Sicherung der Erkennbarkeit und Kontrolle von Kriminellen gemacht. Er wollte Verbrecher mit chemischen Ätzmitteln markieren, Narben auf Wange und Stirn erzeugen oder die ganze Gesichtshaut purpurn bis schwarz färben. Und als wären sie bei Bentham in die Schule gegangen, bestrafen Tugendwächter in Iran angeblich «unzüchtige» junge Frauen, indem sie ihnen Säure ins Gesicht schütten. Gottlob, sind unsere Überwachungstechnologien schmerzlos, und darum stossen sie bei der grossen Bevölkerungsmehrheit auch nicht auf Widerstand. Eine Umfrage des deutschen Fernsehsende ZDF zu den «wichtigsten politischen Themen» im Januar 2014 ergab, dass wenige Monate nach den ersten Enthüllungen Edward Snowdens der Datenschutz für Deutsche an 15. Stelle rangiert. Diese Überwachungsnarkose ist eine Gabe der Technik. Sie überwacht die Kommunikationen und Bewegungen Verdächtiger schmerzlos aus weiter Ferne.
Die rasant sich entwickelnde Sicherheitstechnik und die Kooperation transnationaler Bürokratien mit unterschiedlichen Rechtsordnungen treiben die Geheimdienste inzwischen dazu, die durch Gesetze und Grundrechte festgelegten Grenzen weit zu überschreiten. Die Überschreitung wird nun zu einer staatlich gedeckten Praxis, weil sie die beiden Staatsgründungsantriebe im Sinne von Hobbes dabei vereint: Sie gibt der Todesfurcht alle Abwehrmittel an die Hand und sorgt zugleich für ein angenehmes, hier also schmerzloses Leben. Das fasste Eric Schmidt, der Executive Chairman von Google, 2010 in die unsterblichen Worte «Happier societies are more secure societies». Die unter dem Gesellschaftsvertrag vereinigten Bürger sehen auch hier ihre beiden Gründungstriebe bedient: Die geheimdienstliche Sicherung, die die Todesfurcht mildert, trägt zur Happiness bei, während die grossen Internet- und Mobilfunkkonzerne, die sich selbst mit der Mission der Happiness beauftragt haben, über narkotisierende Lebenserleichterungen die Sicherheit erhöhen. Die Paradoxie daran ist allerdings, dass die Geheimdienste in diesen grossen IT-Unternehmen wie Google, Apple oder in der Social-Media-Plattform Facebook starke Verbündete gefunden haben, die das gleiche Wissensmonopol-Interesse haben und ihr Wissen bereitwillig weitergeben.
Die andere Triebkraft der Staatsgründung, das Commodious Living, ist durch die digitale Kultur und ihre beispiellose Dynamik bestimmt. Mit ihr haben sich zwei neue Varianten des bequemen Lebens und der Schmerzlosigkeit entwickelt, nämlich einmal die elektronischen Spielzeuge sowie die zahlreichen kostenfreien elektronischen Dienste, die uns so vieler Lebensmühen entheben. Vergessen wir nicht, dass das «Umsonst» ein hochwirksames Narkotikum ist. Könnte man in den Kopf eines imaginären Unterzeichners von Hobbes‘ Gesellschaftsvertrag blicken und sehen, welche Vorstellungen er sich 1651 von einem Commodious Living, oder heute von einer benutzerfreundlichen Welt, gemacht haben mag, dann würden darin Autos, Telefone, Flugzeuge, Kühlschränke und Staubsauger und andere nützliche Maschinen vorgekommen sein, aber keine der mehreren zigtausend Applikationen, die sich auf unseren Mobiltelefonen türmen. Welchen Menschheitsnutzen stiftet die für 2029 angekündigte Speicherplatte, die 11 Petabytes fasst? Auf einem solchen Träger lassen sich sechshundert Jahre lang täglich 24 Stunden DVD-Videos aufnehmen. Hierzu passend brachte die Alphabet-Holding des Google-Imperiums auch das Anti-Aging-Unternehmen Calico unter ihr Dach, das sich der Biotechnologie der Lebensverlängerung widmet. Unser Alltag wird zunehmend geprägt durch sinnlose technische Evolutionen der Internetindustrie, die uns mit ihrer Mission der Fürsorglichkeit unablässig die Welt benutzerfreundlicher machen will.
Es ist unser Thema, dass diese Lebenserleichterungsindustrie auf ihrer Rückseite oder gleichsam als Parasiten dieser Commodious-Living-Apps die zivile Überwachungskultur hervorgebracht hat. Sie greift all die Informationen ab, die wir zur Lebenserleichterung benutzen, und setzt sie als Big-Data-Gold zur Kontrolle und Steuerung des Nutzerlebens ein. In diesem Sinne erklärt der Google-Chef Schmidt: «Social signals are (…) a powerful driver of behaviour» (MacTaggart Lecture, 2011). Die «social signals» umfassen die Totalität der Daten, die die elektronische Kommunikation von Personen hinterlässt. Das Verhalten zu steuern, wie Schmidt unschuldig sagt, ist natürlich das Ziel vieler Formen der Überwachung. Dabei also geht der wohlbekannte Service, aus Konsumdaten eines Nutzers oder seiner Freunde Empfehlungen zu generieren und deren Kaufverhalten zu steuern, in eine neue Praxis über, Daten auch zu politischen Zwecken zu nutzen. Die smarte Auswertung der «social signals», die Google in gigantischen Mengen speichert, vermag alle Formen der Kritik und des Widerstandes gegen die Allmacht der Lebenserleichterungsindustrie vorwegzunehmen und gegenzusteuern. Auf diese Weise ist die schmerzlose Überwachungskultur der Internetdienste zu einer solchen Macht angewachsen, dass man sie als völlig neue Institution zur Steuerung sozialen Verhaltens neben der Öffentlichkeit alten Schlages sehen muss.
Man sollte sich fragen, wie die schwerfälligen demokratischen Institutionen ihre Werte und Rechte gegen die Dynamik und missionarische Ideologie der medienindustriellen Konzerne behaupten wollen. Und wenn man sieht, dass sich zwei Player von solcher Macht und von solchem Einfluss wie die Geheimdienste in der Grössenordnung der NSA und die Internetdienste vom Schlage Facebooks der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entziehen, muss man sich weiter fragen, ob die alte aufklärerische Idee des Gesellschaftsvertrages nicht ihr Haltbarkeitslimit erreicht hat. Gegen jede Kritik an ihrer Unternehmensphilosophie immunisieren sich zumal die kulturprägenden IT-Unternehmen mit dem, was sie ihre «Mission» nennen. Dieses quasireligiöse Label verheisst zum einen: «connecting all people» und zum anderen nach Schmidts Devise «openness is my religion» die totale Transparenz des Sozialen. Da die alte Öffentlichkeit mehr und mehr ihre Funktion einbüsst, die Macht und sich selbst zu kontrollieren, also in einem altmodischen Sinne zu überwachen, folgern die Ideologen der Connecting- und Openness-Mission daraus, dass auch das Private obsolet ist und das Politische, Private, Geschäftliche und Intime zur Totaltransparenz des Sozialen verschmelzen. Es bleibt indessen unabweisbar, dass das vieldiskutierte Ende der Privatsphäre von interessierten Unternehmern wie dem Facebook-Chef Mark Zuckerberg oder von Zeitgeistdeutern wie Jeff Jarvis ausgerufen wird. Jarvis ist ein prominentes Beispiel dafür, dass auf dem Boden technischer Innovationen keine Torheit auftaucht, ohne dass sich daneben ein Professor aufrichtet und ihre menschheitserlösende Funktion verkündet. So dient die Ideologie der Post-Privacy, die das Interesse der Internet-Konzerne an Privatdaten und Verhaltenssteuerung bemäntelt, der Totalisierung der Transparenz. Die Ideologie der vollkommenen Transparenz bildet das Korrelat zur sich eben vollziehenden Totalisierung von Überwachung.
Die Propheten und Ideologen einer restlosen Sichtbarkeit aller irdischen Vorgänge können für ihre protoreligiöse Mission, wonach sie dem Menschheitsglück dienten, keine Gründe ausser Bequemlichkeitsfortschritten mehr nennen. Die Konzernmanager und Lobredner der digitalen Entlastungsindustrie rühmen sich zwar immer wieder, dass sie das einst Undenkbare in die Tat umgesetzt haben. Tatsächlich haben sie auch das Ungedachte, nämlich nie Gewünschte, technisch realisiert. Während alle freiheitlichen Konstitutionen des Westens zur Begründung ihrer Normen von anthropologischen Grundannahmen und Naturrechten ausgehen, wie der Todesfurcht, der Freiheit, dem Glück oder dem Eigentum, vermögen die Lobredner der totalen Überwachbarkeit nichts anderes anzuführen als die schiere Tatsächlichkeit des Technischen. Die Umkehrung, dass wir heute keine Technologien entwickeln, um damit etwas zu tun, sondern dass wir einfach tun, was uns eine entwickelte Technik aufdrängt, ist in den Augen des Soziologen Zygmunt Baumann Symptom einer «unaufhaltsamen Befreiung unseres Handelns von moralischen Skrupeln». Tatsächlich ist die These Zuckerbergs «the age of privacy is over» ein reiner Technofatalismus, der jede Vorstellung von Normativität und Recht aufgegeben hat und den Institutionen der freiheitlichen Gesellschaften gegenüber sowohl ideologisch wie unternehmerisch indifferent bleibt. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 ist das Recht auf Privatheit festgeschrieben, wie es auch in den Artikel 13 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft eingegangen ist. Den im gleichen Artikel garantierten Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten haben inzwischen mehrere europäische Staaten in ihren Verfassungen nachgetragen. Dies spielt sowohl für die staatlichen Geheimdienste wie für die überstaatliche Bequemlichkeitsindustrie keine Rolle.
Ist es nicht angesichts des unablässig angeheizten neuen Fear of Death und der dauernden Verführung zum Commodious Living an der Zeit, den Gesellschaftsvertrag noch einmal neu auszuhandeln?