In vielen Ländern Europas breitet sich die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum immer weiter aus. Diese Form der Massenüberwachung ist übertrieben und unnötig und verletzt unser Recht auf Privatsphäre. European Digital Rights (EDRi) ruft die Europäische Kommission deshalb dazu auf, den Einsatz solcher Technologien rechtlich und in der Praxis zu verbieten (PDF). EDRi ist ein Netzwerk von Organisationen, die sich für Grundrechte in der digitalisierten Welt einsetzen. Die Digitale Gesellschaft ist beobachtendes Mitglied und hat an der Erarbeitung des Aufrufs mitgearbeitet.
Ende 2019 wurde in mindestens 15 europäischen Ländern mit Technologien zur biometrischen Massenüberwachung, wie z.B. Gesichtserkennung, experimentiert. Der Zweck dieser Anwendungen ist es, Menschen zu beobachten, zu verfolgen, zu analysieren, ihr Verhalten zu bewerten und sie bei der Ausübung ihres Alltags zu beurteilen.
Verstärkt wird diese Situation durch die Zusammenarbeit vieler Regierungen mit verschwiegenen Tech-Firmen und das Fehlen jeglicher öffentlicher Debatte. Ebenso fehlt der Nachweis, dass diese Anwendungen grundlegende Anforderungen an Notwendigkeit, Verhältnismässigkeit, Legitimation, Rechtmässigkeit und Verantwortlichkeit erfüllen.
Ohne Wahrung der Privasphäre gibt es kein Recht auf vertrauliche Unterhaltung mit Freunden, der Familie, der Chefin oder sogar einem Arzt. Unser Klimaktivismus wird für alle sichtbar. Wir werden beobachtet, wenn wir versuchen, anonym auf Missstände oder Korruption hinzuweisen. Wir werden erkannt, wenn wir an einer von unserer Regierung unerwünschten Demonstration teilnehmen. Unerkannt Gottesdiensten oder Gewerkschaftstreffen beizuwohnen, ist nicht mehr möglich. Wir können unsere Partner*innen nicht mehr unbeobachtet umarmen oder frei umherlaufen, ohne dass uns jemand vielleicht für verdächtig hält. Durch ständige Massenüberwachung verlieren wir die Möglichkeit, wirklich allein sein zu können. Stattdessen werden wir konstant überwacht und kontrolliert.
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie wurden unter dem Deckmantel der öffentlichen Gesundheit Smartphone-Apps und andere Massnahmen vorgeschlagen, physische Überwachung auszubauen. Die Gefahr ist gross, dass die eingeführten Überwachungsmassnahmen auch nach dem Ende der Pandemie eingesetzt werden. Werden zum Beispiel Kameras, die in Büros die Körpertemperatur messen, nach der Pandemie wieder entfernt?
Die ungerichtete (und nicht auf konkretem Verdacht beruhende) Sammlung und Verarbeitung von sensitiven biometrischen Daten führt zu einer «Architektur der Unterdrückung», in der Regierungen detailliert und dauerhaft protokollieren können, wen wir treffen, wo wir uns aufhalten und was wir tun. Diese Daten können gegen uns verwandt werden, sei es zur Strafverfolgung, für administrative Zwecke oder sogar kommerzielle Ziele. Für diese Überwachung darf es in einer freiheitlichen, demokratischen und auf Grundrechten basierenden Gesellschaft keinen Platz geben.
Ioannis Kouvakas, Legal Officer bei der EDRi-Mitgliedsorganisation „Privacy International“ (PI) warnt:
«Die Einführung von Gesichtserkennung in Städten ist ein radikales und dystopisches Vorhaben, welches unsere Freiheit bedroht und die grundsätzliche Frage aufwirft, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Eine solch einschneidende Überwachungstechnologie bietet Behörden neue Möglichkeiten, die Demokratie zu untergraben unter dem Vorwand, sie zu schützen. Wir müssen ihren Einsatz verbieten, bevor es zu spät ist»
(«The introduction of facial recognition into cities is a radical and dystopic idea which significantly threatens our freedoms and poses fundamental questions about the kind of societies we want to live in. As a highly intrusive surveillance technique, it can provide authorities with new opportunities to undermine democracy under the cloak of defending it. We need to permanently ban its roll out now before it’s too late.»)
EDRi ruft deshalb zu einem sofortigen und unbegrenzten Verbot biometrischer Massenüberwachung für die Europäische Union auf. Die Digitale Gesellschaft schliesst sich diesem Aufruf für die Schweiz an.
Biometrische Massenüberwachung ist ungesetzlich. In vielen Grundrechtekatalogen und Verfassungen werden unsere Rechte auf Freiheit, Unverletzlichkeit und Schutz der Privatsphäre garantiert. Biometrische Massenüberwachung stellt eine essentielle Verletzung dieser Grundrechte dar.
Sind Systeme erst einmal im Einsatz, welche die ständige Überwachung aller Menschen als normal und legitim erscheinen lassen, ist der Schritt zu autoritären Verhältnissen nicht mehr gross. Die EU muss deshalb durch gesetzgebende und andere Massnahmen sicherstellen, dass biometrische Massenüberwachung rechtlich und in der Anwendung verboten wird.
Die meisten relevanten (und weniger relevanten) Bereiche sind heute gesetzlich reguliert. Im Bereich der biometrischen Identifikation, vor allem ohne konkreten Verdacht und in öffentlich zugänglichen Räumen, war Europa bisher jedoch ein Paradies für ungesetzliche Experimente und Überwachung. Dies, obwohl nach einer Studie von 2020 über 80% der Menschen es ablehnen, ihre Gesichtsdaten den Behörden zu überlassen.
EDRi ruft deshalb die EU-Kommission, das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten auf, ihre grundlegenden Werte zu bewahren und ihre Gesellschaften durch ein Verbot von biometrischer Massenüberwachung vor Schaden zu bewahren. Andernfalls droht ein unkontrolliertes und unkontrollierbares Abgleiten in eine digitale Dystopie.
Als Digitale Gesellschaft schliessen wir uns diesem Aufruf für die Schweiz an. Die Schweiz ist kein Mitgliedsstaat der EU und hat deshalb nicht die gleichen gesetzlichen und verfassungsmässigen Grundlagen. Die Werte und Grundrechte, auf die sich der Aufruf stützt, sind jedoch universell gültig und auch die unseren in der Schweiz.