Die vom Bundesrat auf den Weg gebrachte Contact Tracing-App berücksichtigt die Forderungen der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft bezüglich Privatsphäre und Datenschutz weitgehend. Dennoch bleiben wichtige Fragen offen. Dies stellen Amnesty International, die Digitale Gesellschaft und die Stiftung für Konsumentenschutz in einer gemeinsamen Erklärung an Bundesrat Berset und das Bundesamt für Gesundheit BAG fest.
Bereits Anfang April hat die Digitale Gesellschaft gemeinsam mit Amnesty International und der Stiftung für Konsumentenschutz Forderungen an eine Contact Tracing-App umrissen. Letzte Woche hat nun der Bundesrat die Verordnung über den Pilotversuch mit dem «Swiss Proximity-Tracing-System» veröffentlicht und weitere Informationen über die Swiss PT-App geliefert («Fragen und Antworten zur Swiss Proximity-Tracing-App»). Die drei Organisationen nehmen erfreut zur Kenntnis, dass sich die Schweiz den wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Forderungen weitgehend anschliesst.
Der Bund setzt auf ein dezentrales Konzept (DP-3T), das von den beiden Eidgenössischen Hochschulen Zürich (ETH) und Lausanne (EPFL) entwickelt wurde. Die grundlegenden Elemente dieser Anwendung sollen in den kommenden Wochen durch Apple und Google direkt in ihre Betriebssysteme übernommen werden. Der Bundesrat will nun am 20. Mai die gesetzliche Grundlage für den Normalbetrieb der App verabschieden, damit das Parlament in der Juni-Session darüber beraten und entscheiden kann.
Überwachungsalptraum oder nützliches Hilfsmittel?
Proximity-Tracing per App ist eine Risikotechnologie. Je nach Umsetzung kann sie zu einem dystopischen Überwachungsstaat führen, oder sie kann nützliche Dienste zur Pandemiebekämpfung leisten und gleichzeitig Privatsphäre und Datenschutz respektieren.
In der Verordnung des Bundesrates für den Pilotversuch der Contact Tracing-App sind die wichtigsten Voraussetzungen geregelt: Der Grundsatz der Freiwilligkeit bei der Installation und Nutzung der App sowie bei der Benachrichtigung anderer Personen bei einer allfälligen Infektion. Der Grundsatz der Datensparsamkeit und Anonymisierung, der dezentralen Speicherung, der Offenlegung des Quellcodes aller Komponenten und der Anwendung des Datenschutzes.
Jedoch bleiben kritische Fragen offen. Erstens muss die App sinnvoll mit anderen Massnahmen verknüpft sein, damit sie nützlich und somit auch verhältnismässig ist. Zweitens ist die Nützlichkeit der App für die Pandemiebekämpfung noch keineswegs erwiesen und muss laufend evaluiert werden. Drittens dürfen Personen, die die App nicht nutzen wollen oder können, nicht benachteiligt werden. Und viertens wird es bei der App darauf ankommen, wie Apple und Google die Integration in ihre Betriebssysteme umsetzen.
Bis jetzt liegt nur die Verordnung für den Testbetrieb vor und die genannten Grundsätze müssen noch in der Botschaft des Bundesrates zum Gesetz und schliesslich auch in der Debatte im Parlament bestätigt werden.
Kein Zaubermittel: Es braucht Einbettung mit anderen Massnahmen
Die Corona-App ist kein Zaubermittel gegen die Pandemie, sondern nur ein Hilfsmittel neben anderen Elementen wie Testen, Isolation und Zugang zu Gesundheitsversorgung. Sollte sich herausstellen, dass Proximity-Tracing per App das Contact-Tracing nicht wie erhofft unterstützen kann, muss das Experiment beendet werden. Entsprechend muss im Gesetz eine Evaluation vorgesehen werden.
Entscheidend ist nicht nur die technische Umsetzung der App, sondern auch die Einbettung in die gesamte Präventionsstrategie. Laut den Informationen des Bundes wird den Personen, die mit der App wegen Kontakten mit Infizierten gewarnt werden, nicht empfohlen oder ermöglicht, sich auf Covid19 testen zu lassen. Solange eine Person keine Symptome habe, seien keine medizinischen Abklärungen oder ein Labortest notwendig. Diese Begrenzung des Testens auf Personen mit Symptomen wirft die Frage auf, wozu genau die App nützlich sein soll. EpidemiologInnen hatten die Ausweitung der Testkriterien auf Personen gefordert, die durch die App gewarnt werden.
Mit der Begrenzung der Tests stellt sich ein weiteres Problem. Laut Bund wird den Personen, die mit der App gewarnt werden, eine «freiwillige Quarantäne» empfohlen, wobei die Person dann kein Anrecht auf Lohnfortzahlung habe. Die Lohnfortzahlung sei nur dann gewährleistet, wenn die Isolation durch ein ärztliches Zeugnis angeordnet wird. Da sich die gewarnten Personen jedoch nicht testen lassen können (solange sie keine Symptome haben), müssten sie sich freiwillig in Isolation begeben und auf ihren Lohn verzichten. Diese Begrenzung schränkt die Nützlichkeit der App und der mit ihr verbundenen Massnahmen wesentlich ein. EpidemiologInnen fordern, dass die App klare Folgen haben muss, wie das Recht auf Testen und/oder die Ausstellung eines Quarantänezeugnisses, damit sie wirklich nützlich sein kann.
Die Frage könnte sich als Knackpunkt der App erweisen: Denn wenn die Nützlichkeit der App begrenzt ist, steht auch ihre Verhältnismässigkeit infrage – und damit ihre Zulässigkeit angesichts der Risiken. Die Schwelle für einzelne Personen, sich mit oder ohne Test in Quarantäne zu begeben, muss möglichst niedrig bleiben, um die Wirksamkeit der App, deren Einsatz auf Freiwilligkeit beruht, nicht zu gefährden.
Keine Benachteiligung bei Nicht-Benützung
Personen, welche die App nicht verwenden oder kein passendes Mobiltelefon besitzen, dürfen zudem nicht benachteiligt werden. Der Staat darf Leistungen (wie beispielsweise öffentlichen Verkehr, finanzielle Unterstützung) schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (Gleichbehandlungsgrundsatz) nicht davon abhängig machen, ob jemand die App benutzt. Private Arbeitgeber dürfen von ihren Angestellten aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht verlangen, die App zu benutzen, was durch die zuständigen Behörden rigoros durchzusetzen ist. Sofern zu befürchten ist, dass private Unternehmen KundInnen diskriminieren, wenn sie die App nicht verwenden, ist dies durch gesetzliche Vorgaben zu verhindern und durchzusetzen.
- Das ausführliche Statement an den Bundesrat: Grundrechtliche Forderungen an eine «Contact Tracing»-App