Vor knapp drei Wochen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klargestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention durch die vom Whistleblower Edward Snowden aufgedeckte Massenüberwachung der britischen Regierung verletzt wurde. Deswegen hat das Gericht nun neue Anforderungen an solche Überwachungsmassnahmen gestellt, lässt sie jedoch weiterhin prinzipiell zu. Ob und wie dieses Urteil zu wirksamem Grundrechtsschutz verhilft, wird erst die Praxis zeigen können.
Acht Jahre nach den Enthüllungen des wohl bekanntesten Whistleblowers gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Edward Snowden zumindest teilweise Recht. Der ehemalige CIA-Spezialist und NSA-Mitarbeiter veröffentlichte damals interne Dokumente, die die britische Regierungsbehörde GCHQ (Government Communications Headquarters) der massenhaften Überwachung von Online-Kommunikation bezichtigte. Nach dem neuen Urteil vom 25. Mai 2021 werden nun erneut Forderungen nach der Begnadigung Snowdens laut, dessen Enthüllungen wertvolle Erkenntnisse bezüglich des enormen Potentials der Technik verschiedener Geheimdienste zur Abhörung von Computern und anderen Kommunikationsgeräten lieferten.
Das Strassburger Gericht hat im Urteil der Grossen Kammer einige Einschränkungen für die Überwachung durch die Geheimdienste erlassen. Generell ist die Stossrichtung des Urteils erfreulich, jedoch lässt es – wie bereits dessen Urteil von vor drei Jahren – einiges an wirkungsvollem Grundrechtsschutz zu wünschen übrig: Damals wurde bereits klargestellt, dass das Abfangen von Verkehrsdaten dieselben Grundrechtsverletzungen wie die inhaltliche Überwachung von Gesprächen bedeutet. Argumentativ war das Gericht jedoch kaum überzeugend in seiner Einschätzung, dass die gezielte Überwachung Einzelner stärker in die Grundrechte eingreife, als die massenhafte Überwachung der gesamten Bevölkerung. Ebenso wenig einleuchtend ist die Aussage des Gerichtshofes im aktuellen Urteil, dass die generelle Massenüberwachung entscheidend für die nationale Sicherheit der Vertragsstaaten sei.
Neue Anforderungen an Überwachungsmassnahmen
Trotz teils fragwürdigen Argumenten stellte der Menschenrechtsgerichtshof im neuen Urteil zumindest eindeutig fest, dass sowohl Artikel 8 (Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) als auch Artikel 10 (Menschenrecht auf Freiheit der Meinungsäusserung) der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Massenüberwachung des GCHQ verletzt wurden. Als Konsequenz werden staatliche Überwachungsmassnahmen nun stärker eingeschränkt, bleiben aber prinzipiell zulässig.
Künftig muss Massenüberwachung erstens von einer unabhängigen Stelle vorgängig autorisiert werden, und zweitens sind die verwendeten Selektoren einer internen Genehmigung zu unterziehen. Die erste Anforderung bedeutet im Detail, dass eine unabhängige Instanz eine spezifizierte Ermächtigung sowie sogenannten «Ende-zu-Ende»-Schutz erteilt, der sich beginnend bei der ersten Datenerfassung bis hin zur Speicherung in den Datenhalden erstreckt. Damit soll in jeder Phase des Prozesses die Verhältnismässigkeit der getroffenen Massnahmen bewertet und dadurch wirksamer Schutz vor Missbrauch erreicht werden. Die Anforderung an die Selektoren verlangt ebenfalls eine unabhängige Genehmigung, wodurch (zu) weit gefasste Stichworte wie «nationale Sicherheit» in Zukunft nicht mehr als Kriterium für die technische Auswahl des aus der Massenüberwachung entstehenden Datenbergs gelten dürfen.
Erst die Umsetzung dieser neuen Anforderung durch die Vertragsstaaten wird zeigen, wie wirkungsvoll dieser Missbrauchsschutz sein kann. Sowohl in Grossbritannien wie auch in Deutschland werden wohl Gesetzesänderungen notwendig. In ersterem, weil im britischen Recht bis anhin der Innenminister – eben keine unabhängige Stelle – die Genehmigung zur Massenüberwachung erteilt hat. In Deutschland wird der nun zu gewährleistende «Ende-zu-Ende»-Schutz wahrscheinlich eine Änderung des Bundesnachrichtendienstgesetzes zur Folge haben.
Wirksamer Missbrauchsschutz auch ohne gerichtliche Überprüfung möglich
Selbstverständlich greift der vom Gericht gewählte Ansatz, Massenüberwachung weiterhin zu gestatten, zu wenig weit und führt nicht zu einer massiven Grundrechtsverbesserung für die knapp 820 Millionen betroffenen Europäer:innen. Immerhin gelten nun aber gewisse Schutzvoraussetzungen, wodurch der unglücklicherweise noch immer geltende Ermessensspielraum der Vertragsstaaten zumindest eingeschränkt wird. Die neu eingeführte, unabhängige Kontrolle muss zwar auch nicht von der Judikative stammen, sondern nur gerade von der ausführenden Stelle unabhängig sein. Die Tatsache, dass nicht vorgeschrieben wurde, ob ein Gericht oder ein anderes unabhängiges Gremium für die Überprüfung zuständig ist, ist jedoch auch nicht entscheidend. Eine gerichtliche Überprüfung ist nämlich nicht zwingend und in jedem Fall wirkungsvoller. Die Wirksamkeit hängt vor allen Dingen davon ab, was das Gremium überhaupt überprüfen kann.
Kern des erweiterten Missbrauchsschutzes müsste vielmehr sein, dass die vorgängige Genehmigung effektiv die Massenüberwachung einzudämmen vermag, vor allen Dingen im Bereich des journalistischen Quellenschutzes. Dass dieses und andere Versäumnisse des Gerichts in diesem Urteil eben nur unzureichend verbessert wurden, sieht auch der Richter Pinto de Albuquerque in seiner abweichenden Meinung zu Ende des Urteils so:
«For good or ill, and I believe for ill more than for good, with the present judgment the Strasbourg Court has just opened the gates for an electronic ‹Big Brother› in Europe»
(zu Dt.: «Wohl oder übel, und ich glaube eher übel als wohl, hat das Strassburger Gericht mit diesem Urteil einem elektronischen ‹Big Brother› in Europa Tür und Tor geöffnet»).
‒Pinto de Albuquerque
Fehlender Schutz vor Überwachung in der Schweiz
Auch in der Schweiz werden das Privatleben, die Meinungsfreiheit und die journalistische Tätigkeit noch nicht wirksam vor Massenüberwachungsmassnahmen geschützt, jedoch könnte sich dies bald ändern: Ende letzten Jahres hat das Schweizerische Bundesgericht eine Beschwerde der Digitalen Gesellschaft gegen die Kabelaufklärung vollumfänglich gutgeheissen. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht prüfen, ob diese Form der Massenüberwachung die Grundrechte der Betroffenen verletzt und – um einen wirksamen Grundrechtsschutz sicherzustellen – in letzter Konsequenz einzustellen ist. Daher haben wir auch die entsprechenden Beweisanträge gestellt, und unter anderem gefordert, dass auch Expert:innen wie Edward Snowden zu befragen sind.
Leider will sich zumindest das Schweizer Stimmvolk scheinbar nicht für eine Beschränkung von Überwachungsmassnahmen aussprechen, wie die gestrige Annahme des Bundesgesetzes über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) zeigt. In Zukunft dürfen nach dessen Artikel 23e, 23h sowie 23q selbst besonders schützenswerte Daten von Personen, die die staatliche Ordnung nur schon verändern wollen, wie auch Dritten, die mit diesen sogenannten terroristischen Gefährdern in Kontakt stehen, mittels elektronischer Überwachung erhoben werden. Auch hier bleibt spannend abzuwarten, wie die Gesetzesanwendung der Praxis aussehen wird.
Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun eindeutig festgehalten hat, dass durch die Massenüberwachung des britischen Geheimdienstes nicht nur das von der Europäischen Menschrechtskonvention geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens, sondern auch das Recht auf Freiheit der Meinungsäusserung verletzt wurde, legitimiert Snowdens Enthüllungen also zumindest teilweise.