Rahel Bains, Redaktionsleiterin bei tsüri.ch, spricht in der neusten Folge des «Deep Technology Podcasts» über die tiefgreifenden Veränderungen in ihrer Branche, das gewandelte Rollenverständnis der Medien in unserer Gesellschaft, neue Finanzierungsmodelle sowie verschiedene Gefahren, welche die Online-Mediennutzung birgt.
Die Digitalisierung unterwirft den Journalismus auch hierzulande einem enormen Strukturwandel. Insbesondere dessen Finanzierung wird in Folge der an die Tech-Giganten Google, Facebook und Konsorten abfliessenden Werbegelder bekanntlich Jahr für Jahr prekärer, sodass mittlerweile auch die hiesigen Grossverlage nach staatlicher Subventionierung rufen.
Rahel Bains arbeitet heute für keines der grossen Medienhäuser mehr – im Gegenteil: tsüri.ch ist eine verhältnismässig kleine, sehr jung besetzte, rein digitale Zeitung, die sich frischen, multimedialen und qualitativ hochwertigen Lokaljournalismus auf die Fahnen schreibt.
Begonnen hat die leidenschaftliche Journalistin bereits früh mit Schülerzeitungen, landete erst bei klassischen Printmedien der «alten Schule», hat dann aber schnell einmal die Hektik und den Stress in der schönen neuen Welt des Online-Journalismus kennengelernt, als sie beim 20-Minuten-Newsdesk anfing. Über einige Zwischenstationen bei verschiedenen Magazinen landete sie schliesslich bei ihrem heutigen Arbeitgeber und Herzensprojekt tsüri.ch.
Deep Technology Podcast
Der technologische Fortschritt wirft Fragen auf: Wie steht es um die Zukunft der Arbeit, Datensicherheit oder das Recht auf Privatsphäre? Diktieren Technologien eine neue Realität oder haben wir die Zukunft noch in der Hand? Im Deep Technology Podcast (RSS) diskutieren Menschen in der Schweiz neue Technologien, ihre Hoffnungen, Sorgen und Ängste. Ab dem September 2021 erscheint die zweite Staffel, produziert von Filmregisseur, Autor und Podcaster Manuel Stagars.
Tempo vs. Tiefgang
Rahel Bains beklagt im Gespräch mit Manuel Stagars immer wieder die explodierende Quantität bei zugleich erodierender Qualität der Online-Berichterstattung. Information auf News-Niveau sei heute überall «gratis», sprich meist werbefinanziert zu haben. Social Media konditioniere die Menschen auf eine extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne. Entsprechend laut müsse man sein, um angeklickt zu werden.
Das digitalaffine Publikum zur Zahlung für Inhalte zu überreden, sei folglich eine, wenn nicht die grosse Herausforderung unserer Zeit. Anders könne der Journalismus seiner eigentlichen Aufgabe, den Menschen mittels fundierter Recherchen Einordnung und Hintergrund zu liefern, kaum gerecht werden.
Gewisse unschöne Erscheinungen, namentlich Clickbaiting, welches freilich eng mit einem bestimmten Finanzierungsmodell zusammenhängt – wer nicht auf Werbung setzt, muss auch nicht die Klickzahl und Verweildauer seiner Leser:innen maximieren – erachtet sie als nur vorübergehendes Phänomen. Denn es sei schlicht nicht nachhaltig. Aufmerksamkeitsheischende Schlagzeilen ohne Gehalt dahinter enttäuschten bloss die Erwartungen der Leserschaft, welche einen letztlich mit Vertrauensverlust, Desinteresse und Abwanderung abstrafe.
Tausendsassas statt Spezialist:innen
Doch das gesteigerte Tempo im Online-Journalismus bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen kremple die Anforderungen an Journalist:innen gleichwohl radikal um: Statt Profis auf Spezialgebieten wie Videoschnitt, oder Interviewtechnik würden heute Multitalente nachgefragt, die von der Konzeption und Recherche über Audio- oder Video-Dokumentationen bis zur Nachbearbeitung, Produktion und Bewerbung auf Social-Media-Kanälen alles in Personalunion machten. Dass dabei die Qualität tendenziell auf der Strecke bleibe, sei nur logisch.
Stellvertretend für diese Entwicklung steht etwa die Entscheidung des Tamedia-Blattes «20 Minuten», ab diesem Jahr gänzlich auf die Dienstleistungen der Text- und Bildagentur Keystone-SDA zu verzichten. Stattdessen werden die eigenen Journalist:innen angewiesen, jede Woche mindestens 3 Handyfotos ins interne Bildarchiv hochzuladen.
Mehr Zeit?
Auf die Frage hin, ob und welche Vorteile Digitaltechnologien in ihrem Beruf brächten, weiss Bains erst keine rechte Antwort. Die Verheissung zunehmender Automatisierung sei ja immer gewesen, dass sie uns Arbeit erspare. Sie hingegen diagnostiziert, in ihrem Beruf habe die Arbeitsbelastung nicht abgenommen, sondern sich nur verändert.
Aber immerhin: Eine Balance zu finden zwischen den Verlockungen einerseits und den Belastungen andererseits durch unsere ständigen digitalen Begleiter, fällt ihr scheinbar nicht schwer. Ihrer Meinung nach sei das in erster Linie eine Frage des Willens. Sie kenne aber persönlich Menschen, die bräuchten Phasen radikaler «digitaler Entgiftung», um zu einem gesunden Umgang zurückzufinden.
Mehr Maschine.
Eine existenzielle Bedrohung ihres Berufsstandes durch die digitalen Helfer sieht Bains indes kaum. So glaubt sie, inhaltlich anspruchsvollere Texte würden – falls je überhaupt – erst in ferner Zukunft von einer Maschine ausgespuckt. Ob sie der Fähigkeiten neuster Sprachmodelle wie GPT-3 dabei gewahr ist, bleibt im Unklaren.
GPT-3 ist angeblich so mächtig, dass das dahinterstehende, nicht-gewinnorientierte Unternehmen OpenAI bislang davon absah, das Modell unter den sonst üblichen Open-Source-Bedingungen offenzulegen. Die Befürchtung, dass es für automatisierte Desinformation (etwa durch Trollfabriken) oder andere gesellschaftsadverse Zwecke missbraucht werden könnte, überwiegt1. Stattdessen werden die Fähigkeiten von GPT-3 via kostenpflichtiger Programmierschnittstelle bereitgestellt, bei der ein Missbrauch via Entzug des Zuganges leichter sanktioniert werden kann. Aber wir schweifen ab.
Geradezu fasziniert scheint Rahel Bains hingegen von maschineller Sprachtranskription. Tatsächlich scheint endlich ein Beispiel einer nützlichen «KI»-Technologie gefunden: Die automatische Transkription erspare ihr bei Interviews die zuvor notwendige stundenlange mühsame Transkription von Hand – ein grosser Segen.
Medienkompetenz
Auf den Preis für die Digitalisierung angesprochen – das undurchsichtige Absaugen der eigenen Daten ins Silicon Valley – meint Bains: «Natürlich, Thema Datenschutz». Und kommt sogleich auf den eigenen Nachwuchs zu sprechen. Ein Thema, das die dreifache Mutter selbst immer stärker beschäftigt: Die Technik- und Medienkompetenz unserer jüngsten Gesellschaftsmitglieder.
Ihnen einen gesunden Umgang damit beizubringen, sei kein Leichtes. Ein Fernhalten der Kleinen von Instagram, Snapchat und Co. sei nicht zuletzt aufgrund des Gruppendruckes in der Schule schlicht illusorisch.
Die Asymmetrie zwischen den Big-Tech-Konzernen auf der einen und deren Nutzer:innen auf der anderen Seite – korrekterweise eigentlich als deren Produkte zu bezeichnen, die sie an die meistbietende Werbekund:in verkaufen – könnte in diesem Kontext kaum grösser sein: Facebook etwa betreibt ausgedehnte interne Forschung über Suchtpotenziale und andere Nebenwirkungen der eigenen Social-Media-Dienste, hält diese aber wann immer möglich unter Verschluss. Wie vor Kurzem publik wurde, beabsichtigte Zuckerbergs Konzern auch, die eigenen Angebote auf sehr junge Altersgruppen wie 6–9-Jährige masszuschneidern.
Rahel Bains Wunsch: Ein stärkeres kollektives Engagement zur Förderung entsprechender Kompetenzen seitens der Schule und der Gesellschaft.
Ein erster wichtiger Schritt dabei wäre, dass die Schulen sich aus der zunehmenden Abhängigkeit von Big Tech emanzipieren.
Fussnoten
- Einem egalitären Zugang zum Modell stünde zudem der Umstand entgegen, dass dessen Einsatz nicht unerheblicher Ressourcen bedarf (Rechenleistung wie auch geschulte Fachleute) und daher bei einer Offenlegung ohnehin nur grösseren Akteuren offenstünde.↩︎