Kein Überwachungsstaat ohne Bürokratie: Sicherheitsbehörden in der Schweiz verwenden Formulare, um Überwachungsmassnahmen anzuordnen. Die geforderte Einsicht in diese – leeren! – Formulare wurde der Digitalen Gesellschaft verweigert. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht geurteilt, dass vollständige Transparenz hergestellt werden muss.
In der Schweiz ist der Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (Dienst ÜPF) für die Umsetzung des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) zuständig. Die Behörde versteht sich – so unter anderem auf der eigenen Website – als «unabhängige» Hüterin der «rechtskonformen, rechtsstaatlichen Umsetzung […] zum Schutze der Privatsphäre der Bevölkerung». Leider entspricht dieses Selbstverständnis nicht der Praxis.
Im April 2020 hatte die Digitale Gesellschaft beim Dienst ÜPF um Einsicht in die Formulare gebeten, die von Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten für die Anordnung von Überwachungsmassnahmen verwendet werden. Grundlage bildete das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ). Demnach gilt für Behörden in der Schweiz der Grundsatz der Transparenz. Das Gesuch bezog sich nicht etwa auf ausgefüllte Formulare. Es ging um die leeren Formulare beziehungsweise um die Vorlagen, wie sie vom Dienst ÜPF den verschiedenen Sicherheitsbehörden zur Verfügung gestellt werden.
Der Dienst ÜPF verweigert die Einsicht. Der Dienst ÜPF bot lediglich an, bei einem «Besuch bei uns», «vielleicht ein oder zwei Formulare [zu] sichten». In der Folge gelangte die Digitale Gesellschaft an den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB). Dieser sprach sich für Transparenz aus und forderte vom Dienst ÜPF in einer Empfehlung (PDF), den «vollständigen Zugang zu den neun Formularen […] zu gewähren».
Trotz der klaren EDÖB-Empfehlung zeigte der Dienst ÜPF keinerlei Einsicht und verweigerte die Einsicht mit einer Verfügung. Darin hielten die Überwacher:innen fest, dass die Form dieser Formulare dazu diene, die internen Prozesse in organisatorischer Weise zusätzlich zu schützen.
Diese Darstellung konnte die Digitale Gesellschaft nicht nachvollziehen und erhob gegen die Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde. Mit Urteil vom 29. März 2022 gab das Bundesverwaltungsgericht der Digitalen Gesellschaft vollumfänglich Recht.
Kein Einzelfall
Die Verweigerungshaltung beim Dienst ÜPF hat System. 2019 beispielsweise hatte die Digitale Gesellschaft vom Dienst ÜPF verlangt, Auskunft über die Kategorisierung von einzelnen Fernmeldediensten und Internet-Anbieterinnen zu erteilen. Der Dienst ÜPF hatte nach eigenem Ermessen und einer rechtswidrigen Uminterpretation des Begriffs der Fernmeldedienste solche Dienste und Anbieterinnen unter erweiterte Überwachungspflichten gestellt. Auch in diesem Fall wurde der Zugang verweigert, und auch in diesem Fall erhielt die Digitale Gesellschaft vom EDÖB Recht (PDF). Auf weitere rechtliche Schritte verzichtete die Digitale Gesellschaft damals, da Gerichtsverfahren teuer und zeitaufwendig sind. Als gemeinnützige Organisation verfügt die Digitale Gesellschaft nur über beschränkte Ressourcen.
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Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung
2014 bereits war die Digitale Gesellschaft mit einem Gesuch zur Unterlassung der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung an den Dienst ÜPF gelangt. Das Verfahren ist inzwischen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hängig. Obwohl in der Europäischen Union und in einzelnen europäischen Ländern die höchsten Gerichte immer wieder urteilen, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht zulässig ist, halten die Behörden in der Schweiz an der Überwachung aller Menschen ohne Anlass und Verdacht fest. Ein Verteidiger der Privatsphäre, wie sich der Dienst ÜPF selbst darstellt, ist die Behörde definitiv nicht.
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