Digitale Gesellschaft vs. Schweiz

Vorratsdatenspeicherung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Die Digitale Gesellschaft hatte im September 2018 eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg eingereicht. Lange blieb es in dieser Angelegenheit ruhig. Nun hat die Schweiz, vertreten durch das Bundesamt für Justiz (BJ), die anlasslose Massenüberwachung vor dem Gericht als «notwendig» verteidigt. Die Beschwerdeführenden der Digitalen Gesellschaft widersprechen vehement.

Mit der Vorratsdatenspeicherung werden alle Menschen in der Schweiz ohne Anlass und Verdacht rund um die Uhr überwacht. Sämtliche Anbieterinnen von Internet-, Telefon- und Postdiensten sind verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer Kund:innen für sechs Monate aufzeichnen. Damit wird von allen Nutzer:innen auf Vorrat gespeichert, wann und wo sie mit wem kommuniziert haben. Alle Menschen in der Schweiz stehen unter Generalverdacht. Diese Massenüberwachung stellt einen unverhältnismässigen Eingriff in das Grundrecht auf Privatsphäre dar.

Das Verfahren der Digitalen Gesellschaft gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz nahm 2014 seinen Anfang. Der Rechtsweg in der Schweiz endete 2018, als das Bundesgericht die Beschwerde der Digitalen Gesellschaft ablehnte. Daraufhin gelangten sechs Mitglieder der Digitalen Gesellschaft im September 2018 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass die Vorratsdatenspeicherung gegen das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK), die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) und das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) sowie gegen die Unschuldsvermutung (Art. 6 EMRK) verstösst.

Lange blieb es in dieser Angelegenheit ruhig. Dann wurde die Schweiz eingeladen, bis am 13. März 2023 ihrer Stellungnahme einzureichen. In ihrer Antwort postuliert die Schweiz, dass zwischen verwaltungsrechtlichen und strafprozessualen Fragen zu unterscheiden sei. Es gehe im vorliegenden Verfahren «nur» um die Speicherung der Daten durch Internet-, Telefon- und Postdienste, nicht jedoch um den Zugriff auf die gespeicherten Informationen durch die Strafverfolgungsbehörden und den Geheimdienst. Dieser irreführenden und verharmlosenden Darstellung widersprechen die Beschwerdeführenden in ihrer Stellungnahme vehement – unter ihnen Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft: «Die Vorratsdatenspeicherung findet für einen bestimmten Zweck statt: Für den Zugriff durch Geheimdienst und Strafverfolgungsbehörden. Dieser Zweck kann bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nicht ausgeblendet werden.»

Die Schweiz, vertreten durch das Bundesamt für Justiz (BJ), negiert in ihrer Stellungnahme auch Abschreckungseffekte. Solche «Chilling Effects» entstehen bereits durch die Speicherung der Daten und sind gut belegt. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass die Daten für weitere Zwecke missbraucht werden. Die jüngsten Datenabflüsse bei Bundesbehörden und Bundesbetrieben sorgen nicht für Vertrauen. Für das BJ hingegen heiligt der Zweck die Mittel: «Für eine rückwirkende Überwachung ist es daher notwendig, möglichst viele verschiedene Randdaten zu speichern.»

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Alle europäischen Verfassungsgerichte, welche eine vergleichbare Regelung zu prüfen hatten, haben die Vorratsdatenspeicherung als unrechtmässigen Eingriff in die Grundrechte eingestuft und aufgehoben, ebenso der Gerichtshof der EU (EuGH). Auch der UNO-Kommissar für Menschenrechte äusserte sich bereits 2014 kritisch zur Vorratsdatenspeicherung: «Die Speicherung von Kommunikationsdaten stellt einen Eingriff in die Privatsphäre dar, und zwar unabhängig davon, ob die Daten dann tatsächlich abgefragt werden oder nicht. Dieser Eingriff in die Privatsphäre hat weiter negative Auswirkungen auf die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.»

Die Beschwerdeführenden rechnen sich entsprechend gute Chancen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus.

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